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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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er noch etwas gesagt?‹ fragte er. Ich wußte nicht weiter, ich hätte mir ja etwas ausdenken können, um ihm Trost zu geben, aber es tat mir weh, von Lestat zu sprechen, und die Worte erstarben auf meinen Lippen. Und die kleinen Einstiche bestürzten mich; ich konnte sie mir nicht erklären. Schließlich sagte ich irgendwelchen Unsinn - daß Lestat ihm alles Gute wünsche, daß er mit dem Dampfschiff nach St. Louis gefahren sei, weil er dort zu tun habe, daß der Krieg unmittelbar bevorstünde und daß Lestat bald zurück sein würde. Der junge Mann gierte nach jedem Wort, als könnte er nicht genug hören, und drängte weiter nach dem nächsten. Er zitterte, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und plötzlich biß er sich auf die Lippen und sagte: ›Aber warum ist er fortgegangen?‹, wie wenn ihm meine Erklärungen nicht genügten.
    ›Was ist es denn?‹ fragte ich. ›Was wollten Sie von ihm? Ich bin überzeugt, er hätte mir…‹
    ›Er war mein Freund!‹ rief er aus, und es klang, als unterdrücke er einen Zornesausbruch.
    ›Sie sind krank‹, sagte ich. ›Sie brauchen Ruhe. Da ist etwas…‹, und ich zeigte darauf, ›…an Ihrem Hals.‹ Er wußte nicht einmal, was ich meinte. Mit den Fingern tastete er nach der Stelle und rieb sie.
    ›Was macht das schon! Ich weiß nicht, was es ist‹, sagte er und wandte sich ab. ›Diese Insekten, sie sind überall. Hat er noch etwas gesagt?‹
    Endlich ging er. Ich sah ihm lange nach, wie er sich durch das Gedränge in der Rue Royale seinen Weg bahnte, eine schlaksige, ungestüme Figur, der man bereitwillig Platz machte.
    Ich erzählte Claudia sogleich von dem jungen Mann und den roten Wundmalen an seinem Hals. ›Was kann das bedeuten?‹ überlegte sie. ›Daß Lestat ihm im Schlaf… und daß der Junge es erlaubt hat? Ich kann es mir nicht vorstellen.‹
    ›Ja, das muß es sein‹, sagte ich, aber ich war nicht sicher. Mir fiel ein, daß Lestat zu Claudia eine Bemerkung gemacht hatte, er kenne einen Jüngling, der einen besseren Vampir abgeben würde als sie. Hatte er diese Absicht gehabt? Hatte er einen neuen Vampir schaffen wollen?
    ›Das ist jetzt ganz gleichgültig, Louis‹, sagte sie. Es war unser letzter Abend in New Orleans, und wir mußten Abschied nehmen. Morgen vor Mittemacht würden wir an Bord gehen und bei Tagesanbruch in See stechen. Noch einmal wollten wir gemeinsam ausgehen, und jetzt verließen wir die belebte Rue Royale und wanderten durch einsame Straßen. Meine scharfen Sinne nahmen alles um uns herum wahr und hielten es fest, als könnten sie nicht fassen, daß es die letzte Nacht sein sollte.
    Die alte französische Stadt war vor längerer Zeit zum größten Teil niedergebrannt, und die Architektur jener Tage war spanisch, wie überwiegend auch heute noch. Und als wir durch die sehr engen Straßen gingen, wo eine Kutsche auf die entgegenkommende warten mußte, kamen wir an weißgetünchten Mauern vorbei und an großen Gartentoren, durch die man in idyllische Innenhöfe und Gärten ähnlich dem unseren blicken konnte, geheimnisvoll und verheißungsvoll im schwachen Licht der Laternen. Bananenbäume ragten über die Mauern, Farnkraut und Blumen quollen üppig durch die Tore. Auf den Balkons saßen Leute mit dem Rücken zu den geöffneten Türen; sie fächerten sich Kühlung zu und unterhielten sich flüsternd in der milden Brise, die vom Fluß kam. Über die Mauern hingen Glyzinien und Passionsblumen so reich, daß wir sie im Vorübergehen streiften und uns die eine oder andere Blüte pflückten. Durch hohe Fenster sahen wir das Spiel des Kerzenlichtes an reichverzierten Stuckdecken oder einen hellschimmernden Kristallleuchter. Manchmal trat eine Dame auf den Balkon mit glitzernden Juwelen am Hals und einem Parfüm, das dem Blumenduft noch einen zusätzlichen vergänglichen Reiz verlieh.
    Wir hatten unsere Lieblingsstraßen, Ecken und Gärten; doch als müsse es so sein, erreichten wir schließlich den Rand der alten Stadt und sahen den Sumpf vor uns. Wagen auf Wagen kam uns von der Bayou Road entgegen, zur Oper und zum Theater, doch die Lichter der Stadt lagen hinter uns, und ihre mannigfachen Gerüche wichen dem Modergeruch des Sumpfes. Beim Anblick der hohen, schwankenden Bäume mit ihren bemoosten Zweigen wurde mir übel; ich mußte wieder an Lestat denken. Ich dachte an ihn, wie ich seinerzeit an meinen toten Bruder gedacht hatte, sah ihn tief zwischen den Wurzeln von Eiche und Zypresse versunken, seinen greulichen, verfallenen

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