Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
funkelnden Augen und flatternden schwarzen Gewändern; der Sarg klapperte auf Holzrädern, und die Ratten huschten über den zerbrochenen und holprigen Marmor. Ich sah Claudia in der Prozession, die großen Augen hinter einem dünnen schwarzen Schleier, die eine behandschuhte Hand auf ein schwarzes Gebetbuch gelegt, die andere auf dem Sarg, neben dem sie einherging. Und in dem Sarg, unter einem gläsernen Deckel, sah ich schaudernd Lestats Skelett, dessen Knochen durch die dünne und trocken gewordene Haut stachen; die Augen waren nur noch Höhlen, und das blonde Haar ergoß sich über die weiße Seide.
Jetzt hielt der Zug an. Die Trauernden verteilten sich lautlos in den staubigen Bänken, Claudia öffnete ihr Buch und blickte mich an, als ihr Finger die Seite berührte. ›Und nun verflucht seist du auf der Erde‹, flüsterte sie, und ihr Flüstern hallte von den geborstenen Wänden wider, ›verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden… und schlägt dich wer, das soll siebenfältig gerochen werden.‹
Ich rief sie an, ich schrie, und mein Schrei stieg aus den Tiefen meines Wesens wie eine große, rollende Kraft, die von meinen Lippen brach und meinen Körper taumeln machte. Ein schreckliches Stöhnen kam aus den Reihen der Trauergäste, ein immer lauter werdender Chor, und als ich mich umwandte, wurde ich an die Seite des Sarges gedrängt, und ich stützte mich mit beiden Händen darauf, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und dann blickte ich in den Sarg und sah nicht Lestat, sondern den Leib meines sterblichen Bruders. Ein Schweigen brach herein, als sei ein Schleier über alle gefallen, der ihre Gestalten unter seinen lautlosen Falten aufzulösen schien. Da lag mein Bruder, jung und blond und lieblich, wie er im Leben gewesen, so warm und so wahr, wie vor unendlich vielen Jahren, die aus meinem Gedächtnis geschwunden waren, so vollkommen war er neu-erschaffen, so vollkommen in jeder Einzelheit. Das blonde Haar sauber aus der Stirn gebürstet, die Augen geschlossen, als schliefe er, die Finger um ein Kruzifix auf seiner Brust gelegt, die Lippen so rosig und seidig, daß ich sie kaum ansehen konnte, ohne sie zu berühren. Und als ich die Hand ausstreckte, um seine weiche Haut zu streicheln, endete die Vision.
Noch immer saß ich in der Kathedrale an einem Samstagabend; der Geruch der Kerzen lag schwer in der bewegungslosen Luft, die Frau vor der Kreuzwegstation war fort, und die Dunkelheit umfing mich von allen Seiten. Ein Kirchendiener mit einem Lichthütchen an einem langen Stock ging umher und löschte eine Kerze nach der anderen. Er sah mich und blickte weg, als wolle er keinen stören, der tief im Gebet versunken war. Dann fühlte ich eine Hand auf der Schulter. Daß zwei Sterbliche so nahe an mir vorübergehen sollten, ohne daß ich sie hörte oder mir gar etwas aus ihnen machte, sagte mir rief in meinem Inneren, daß ich mich in Gefahr befand, doch es war mir gleich. Ich blickte auf und sah einen grauhaarigen Priester. ›Möchten Sie noch zur Beichte?‹ fragte er. ›Ich wollte gerade die Kirche abschließen^ Er kniff die Augen hinter dicken Brillengläsern zusammen. Das einzige Licht kam jetzt von den kleinen Kerzen in rotem Glas, die vor den Heiligen brannten und zuckende Schatten an die Wände warfen. ›Sie haben Kummer, nicht wahr? Kann ich Ihnen helfen?‹
›Es ist zu spät, zu spät‹, flüsterte ich und stand auf, um zu gehen. Er trat zurück, ohne offenbar an meiner Erscheinung etwas zu bemerken, das ihn stutzig machen könnte, und sagte freundlich und beruhigend:
›Es ist nie zu spät. Möchten Sie nicht in den Beichtstuhl kommen?‹
Einen Augenblick lang starrte ich ihn an und war versucht zu lächeln. Doch dann sagte ich mir, warum nicht? und folgte ihm, obwohl ich wußte, daß es Wahnsinn war. Ich kniete nieder in dem engen Verschlag, die Hände auf dem Betpult gefaltet, während der Priester nebenan Platz nahm und das Klappfensterchen öffnete, damit ich die dunklen Umrisse seines Profites erkennen konnte. Ich starrte ihn einen Augenblick lang an. Und dann machte ich das Zeichen des Kreuzes und sagte: ›Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt, so oft und so schwer gesündigt, daß ich nicht weiß, wie ich mich ändern soll und wie ich vor Gott bekennen kann, was ich getan
Weitere Kostenlose Bücher