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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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weinte!
    Wider Willen kehrte ich um. Aber es klang so unbewußt, so hoffnungslos, als solle niemand es hören oder als sei es ihr gleichgültig, ob die ganze Welt es hörte. Sie lag auf meinem Bett, wo sie so oft gesessen und gelesen hatte, die Knie angezogen, und der ganze Körper erbebte unter ihrem Schluchzen. Es war schrecklich anzuhören, grauenvoller, herzzerbrechender als ihr sterbliches Weinen je gewesen war. Ich setzte mich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie hob den Kopf, mit großen Augen und zitterndem Mund, das Gesicht mit Tränen beschmiert, in die sich noch kleine Blutflecken mischten. Auch ihre Hand zeigte noch Blutspuren. Sie schien es nicht zu merken, sie strich das Haar aus der Stirn und stieß einen tiefen Seufzer aus. ›Louis…‹, flüsterte sie, ›wenn ich dich verliere, habe ich nichts mehr. Ich würde es ungeschehen machen, um dich zu behalten. Aber ich kann es nicht ungeschehen machen -‹ Sie legte die Arme um mich, klammerte sich an und schluchzte an meiner Brust. Noch zögerten meine Hände, sie zu berühren; dann hoben sie sich wie von selber, um sie zu umfassen und ihr Haar zu streicheln. ›Ich kann nicht ohne dich leben‹, flüsterte sie. ›Lieber würde ich sterben - auf die gleiche Weise sterben, wie er gestorben ist. Ich kann es nicht ertragen, daß du mich so ansiehst; ich kann es nicht ertragen, wenn du mich nicht liebst!‹ Ihr Schluchzen wurde heftiger und leidenschaftlicher, bis ich mich schließlich niederbeugte und ihr Hals und Wangen küßte, ihre weichen Wangen, duftig und zart wie Früchte eines Zauberbaums, die nie von den Zweigen fallen, wo die Blüten nie welken und sterben. ›Schon gut. Liebsten sagte ich zu ihr, ›schon gut!‹ Und ich wiegte sie langsam in meinen Armen, und sie murmelte. daß wir ewig glücklich sein würden, frei von Lestat für immer, und daß jetzt das große Abenteuer unseres Lebens begänne.«

    »Das große Abenteuer unseres Lebens! Was bedeutet es zu sterben, wenn du bis zum Ende der Welt leben kannst? Und ist ›Das Ende der Welt‹ nicht auch nur eine Phrase, denn wer weiß schon, was die Welt ist? Ich hatte nun schon in zwei Jahrhunderten gelebt und gesehen, wie die Illusionen des einen von dem nächsten zerschlagen wurden, war ewig jung und ewig alt gewesen und hatte keine Illusionen mehr, lebte von Augenblick zu Augenblick in einer Weise, daß ich an eine silberne Uhr in einem leeren Raum denken mußte: das gemalte Zifferblatt, die zierlichen Zeiger - sie zeigten nichts an, und niemand schaute sie an, und sie leuchteten in einem Licht, das kein Licht war, so wie das Licht gewesen sein mußte, bei welchem Gott die Welt erschuf, bevor er das Licht befahl. Ticktack, ticktack - eine Uhr in einem Raum so groß wie das Universum.
    Eines Abends war ich auf der Straße, nachdem Claudia aufgebrochen war zu töten, und hatte noch den Duft ihres Haares, ihres Kleides an den Fingerspitzen und auf meinem Rock. Meine Augen leuchteten mir voran wie der Strahl einer Laterne. Plötzlich stand ich vor der Kathedrale. Was bedeutet es zu sterben, wenn du bis zum Ende der Welt leben kannst? Ich mußte an meines Bruders Tod denken, an den Rosenkranz und den Weihrauch. Und plötzlich hatte ich den Wunsch, in die Beerdigungskapelle zu gehen, zu hören, wie die Stimmen der Frauen beim Ave sich heben und senken, und den Geruch der Wachskerzen zu riechen. Ich konnte mich an den Singsang erinnern, als sei es erst gestern gewesen. Ich sah mich selbst einen Korridor entlangeilen und der Tür einen sanften Stoß versetzen.
    Die große Fassade der Kathedrale ragte wie ein dunkler Fels auf, die Türen waren geöffnet, und ich sah das gedämpfte, flackernde Licht im Innern. Es war am frühen Samstagabend,’ und die Leute gingen zur Beichte für die morgige Messe und Kommunion. Die Kerzen brannten in ihren Leuchtern; am Ende des Schiffes erhob sich der mit Blumen bedeckte Altar aus dem Schatten. Es war die alte Kirche, in die man meinen Bruder zu den Exequien gebracht hatte, ehe man ihn begrub. Und mir fiel ein, daß ich seitdem nie mehr hier gewesen, nie wieder die Stufen hinaufgestiegen und durch die offenen Türen gegangen war.
    Ich hatte keine Furcht. Vielleicht wünschte ich sogar, daß sich etwas ereignete daß die Steine zu zittern anheben würden -, als ich durch den Vorraum ging und weitab das Tabernakel auf dem Altar sah. Jetzt erinnerte ich mich, daß ich einmal hier vorbeigekommen war, als die Fenster erleuchtet gewesen und der

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