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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Gesang hinaus auf den Platz gedrungen war. Damals hatte ich gezögert, ungewiß, ob es nicht etwas gab, das Lestat mir nicht verraten hatte, etwas Geheimnisvolles, das mich zerstören könnte, wenn ich eine Kirche betreten würde. Es zog mich hinein, doch schlug ich es mir aus dem Sinn und befreite mich von der Faszination der geöffneten Türen, des monotonen Chorgesanges. Ich trug ein Geschenk für Claudia bei mir, eine Puppe, eine Brautpuppe, die ich aus einem Spielzeugladen geholt hatte, in einer großen Schachtel mit Seidenpapier und bunten Bändern. Eine Puppe für Claudia. Ich hatte sie an mich gedrückt und mich davongemacht.
    Jetzt mußte ich an diesen Augenblick denken, an die Angst in mir, die ich beim Anblick des Altars und beim Klang des Pange Lingua hatte, und dann wieder an meinen Bruder. Ich sah, wie der Sarg das Mittelschiff hinunter getragen wurde, und den Trauerzug dahinter. Jetzt hatte ich keine Furcht, eher den Wunsch, wie ich dir schon sagte, es möge sich etwas zum Fürchten ereignen. Es war kühl hierinnen trotz des Sommers. Wieder fiel mir Claudias Puppe ein. Jahrelang hatte Claudia damit gespielt. Wo war sie geblieben, diese Puppe? Plötzlich sah ich mich danach suchen, beharrlich und sinnlos wie in einem Alptraum, wo man vor Türen steht, die sich nicht öffnen, und Schubladen, die sich nicht schließen wollen, ohne zu wissen, weshalb das Mühen so verzweifelt ist oder warum der plötzliche Anblick eines Stuhls, über dessen Lehne ein Tuch hängt, einen so mit Entsetzen erfüllt.
    Nun war ich also in der Kathedrale. Eine Frau verließ einen Beichtstuhl und ging an der Reihe der Wartenden vorbei. Der Mann, der nun hätte eintreten sollen, rührte sich nicht, und als ich ihm unwillkürlich ein Zeichen geben wollte, starrte er mich an. Schnell wandte ich mich ab und hörte noch, wie er den Beichtstuhl betrat. Ich ging weiter und setzte mich in eine der Bänke, mehr aus Müdigkeit, nicht aus Überzeugung, obwohl ich fast, aus alter Gewohnheit, das Knie gebeugt hätte. Meine Seele kam mir ebenso gequält und unordentlich vor wie die irgendeines Sterblichen. Ich schloß die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Nur hören und sehen, sagte ich zu mir. Um mich herum in dem Halbdunkel hörte ich das Flüstern der Betenden, das leise Klappern der Rosenkranzperlen, den Seufzer einer Frau, die vor einer Kreuzwegstation kniete. Und ich konnte Ratten riechen, eine irgendwo in der Nähe des Hauptaltars und eine andere in dem holzgeschnitzten Marienaltar im Seitenschiff. Die goldenen Leuchter schimmerten auf den Altären; eine volle weiße Chrysantheme beugte sich herab, kleine Tropfen schimmerten auf den üppigen Blütenblättern, und ein säuerlicher Geruch stieg aus den Vasen, die vor den Standbildern der Jungfrau und der Heiligen aufgestellt waren. Ich starrte die Statuen an, plötzlich wie besessen von den empfindungslosen Profilen, den toten Augen, leeren Händen und steifen Falten. Es war ein Friedhof voller Grabdenkmäler und steinerner Engel. Ich sah mich deutlich in einer schrecklichen Vision: Ich stieg die Altarstufen hinauf, öffnete das Allerheiligste, nahm mit frevler Hand den Leib Christi heraus, verstreute die Hostien über den Teppich, trampelte darauf herum und gab dem Staub das heilige Abendmahl. Ich stand auf in meiner Bank und starrte vor mich hin - ich begriff sehr wohl die Bedeutung meiner Vision.
    Gott lebte nicht in dieser Kirche - die Statuen waren ein Abbild der Nichtigkeit.
    Ich war das Übernatürliche hier, das einzige unsterbliche Wesen, das bewußt unter diesem Dache stand. Einsamkeit, Einsamkeit bis zum Wahnsinn. In meiner Vision zerbröckelte die Kathedrale, die Heiligen neigten sich zur Seite und stürzten. Ratten fraßen das Sakrament und nisteten auf den Schwellen der Altäre. Eine große Ratte mit einem langen Schwanz richtete sich auf und zerrte und nagte an der zerschlissenen Altardecke, bis die Kerzen hinunterfielen und über die schleimbedeckten Steine rollten. Und ich blieb stehen. Ungerührt. Und plötzlich griff ich nach der Hand der Madonna und sah, daß sie in meiner Hand zerbrach, so daß ich nur noch Gipsbrocken hielt, von meinen Fingern zu Staub zerdrückt.
    Und durch die Ruinen, durch die offene Tür, hinter der ich in allen Richtungen wüstes Land sah, den großen Fluß über und über gefroren und bestückt mit vereisten Schiffstrümmern, durch diese Ruinen näherte sich jetzt ein Leichenzug, eine Schar blasser Männer und Frauen, Ungeheuer mit

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