Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
zur Seite, die ihm auf die Beine geholfen hatten.
»Armand«, beschwor er den stummen Meister. »Ruf den Orden zur Ordnung! Armand! Rette uns!«
»Warum in aller Welt«, übertönte ich ihn, »hat der Teufel euch Schönheit, Behendigkeit, visionäre Augen und Zauberkräfte verliehen?«
Alle Blicke waren auf mich gerichtet, alle. Der Junge rief wieder »Armand!«, doch vergeblich.
»Ihr verschwendet eure Gaben!« sagte ich. »Und schlimmer noch, ihr verschwendet eure Unsterblichkeit! Nichts in der Welt ist so unsinnig und widersprüchlich, außer jene Sterblichen vielleicht, die in der Zwangsjacke vergangenen Aberglaubens leben.«
Vollkommene Stille. Ich konnte Nicki atmen hören. Ich spürte seine Körperwärme und seinen halbbetäubten Kampf gegen den Tod.
»Habt ihr eigentlich kein bißchen Scharfsinn?« fragte ich die anderen mit schwellender Stimme. »Fehlt euch eigentlich jeglicher gesunde Menschenverstand? Wie kann ich in lustvoller Vielfalt schwelgen, ich, das reinste Waisenkind gegen euch, die ihr von diesen üblen Eltern gehegt worden seid« - ich wandte den Blick vom Meister und dem zornigen Jungen ab -, »während ihr wie blinde Würmer unter der Erde kriecht?«
»Die Macht Satans wird dich in die Hölle schleudern«, brauste der Junge mit letzter Kraft auf.
»Das wiederholst du ständig!« sagte ich. »Und nichts geschieht, wie wir alle sehen können!« Lautes, zustimmendes Geraune! »Und wenn du an deine Worte wirklich glauben würdest, hättest du dir nie die Mühe gemacht, mich hierher zu bringen.«
Noch lautere Zustimmung.
Ich sah die kleine, hilflose Gestalt des Meisters an. Und alle Blicke wandten sich von mir zu ihm. Sogar die verrückte Vampirkönigin sah ihn an.
Und er flüsterte in die Stille: »Es ist aus.«
Sogar die Gemarterten in der Wand gaben keinen Laut von sich.
Und wieder erhob der Meister seine Stimme: »Geht jetzt, allesamt, das ist das Ende.«
»Armand, nein!« flehte der Knabe.
Aber die anderen traten den Rückzug an, flüsternd die Gesichter hinter den Händen verborgen. Die Pauken lagen umgekippt, die letzte Fackel hing an der Wand.
Ich beobachtete den Meister. Ich wußte, daß seine Worte uns nicht Freiheit verheißen sollten. Und nachdem er den protestierenden Knaben schweigend mit den anderen hinausgetrieben hatte, so daß nur noch die Königin bei ihm war, wandte er mir seinen Blick wieder zu.
3
Der große, leere Kuppelsaal mit nur noch diesen beiden Vampiren, die uns nicht aus den Augen ließen, wirkte im Schummerlicht der letzten Fackel nur noch gespenstischer.
Würden die anderen den Friedhof verlassen, oder würden sie sich oben auf der Treppe herumdrücken? Würden sie zulassen, daß ich Nicki lebend von hier fortbrachte? Der Knabe würde sich gewiß in der Nähe aufhalten, aber der Knabe war schwach; und die alte Königin würde nichts unternehmen. Blieb eigentlich nur der Meister übrig. Aber ich durfte jetzt nicht unüberlegt handeln.
Er sah mich noch immer schweigend an. »Armand?« sagte ich ehrerbietig. »Darf ich dich so anreden?« Ich näherte mich ihm ein paar Schritte, wobei ich genau achtgab, ob sich sein Gesichtsausdruck änderte. »Du bist offensichtlich der Meister. Und du bist es, der uns all dies zu erklären vermag.«
Aber diese Worte verbargen nur schlecht meine Gedanken. Ich fragte ihn mit Inbrunst, wie er sie zu all dem verleitet hatte. Ich sah ihn wieder in seiner ganzen Erhabenheit vor dem Altar von Notre Dame stehen. Und ich erkannte mich in ihm wieder, und ich erkannte seine Möglichkeiten.
Ich glaube, ich durchforschte ihn jetzt nach wenigstens einer kleinen menschlichen Regung. Und der verwundbare Sterbliche in mir, der in der Dorfschänke geweint hatte, sagte: »Armand, was bedeutet das alles?«
Ein Zaudern in seinen braunen Augen. Doch dann verzerrte sich sein Gesicht derart in nackte Wut, daß ich zurückwich.
Ich traute meinen Augen nicht. Seine plötzlichen Temperamentswechsel in Notre Dame waren nichts dagegen. Eine solch vollkommene Verkörperung reiner Bosheit hatte ich noch nie gesehen. Sogar Gabrielle bewegte sich von ihm fort. Sie hob ihren rechten Arm, um Nicki zu schützen, und ich trat zurück, bis ich neben ihr stand und sich unsere Hände berührten.
Auf ebenso eigentümliche Weise schmolz sein Haß wieder dahin. Sein Gesicht war wieder das eines lieblichen, frischen, sterblichen Jungen. Die alte Königin aber lächelte matt und fuhr mit ihren weißen Klauen durch ihr Haar.
»Du verlangst eine Erklärung
Weitere Kostenlose Bücher