Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
plötzlich nach der Einsamkeit eines Klosters verlangt, wo sie im Moment auch sei.
»Ach, Monsieur, das Leben hat sie wieder, es grenzt an ein Wunder«, sagte ich. »Wenn Sie sie nur sehen könnten - aber genug. Wir wollen uns jetzt unverzüglich mit Nicolas de Lenfent nach Italien begeben und brauchen Bargeld, Kreditbriefe, was auch immer, und eine riesige Kutsche mit sechs guten Pferden. Sie kümmern sich darum. Erledigen Sie alles bis Freitagabend. Und schreiben Sie meinem Vater, daß wir meine Mutter nach Italien bringen. Meinem Vater geht es doch gut?«
»Ja, ja, natürlich, ich habe ihm nichts als beruhigende Nachrichten übermittelt -«
»Wie klug von Ihnen. Ich wußte, daß ich bei Ihnen in guten Händen bin. Was würde ich nur ohne Sie machen? Ach ja, und diese Rubine, können Sie sie noch schnell zu Geld machen? Und hier habe ich ein paar spanische Münzen, ziemlich alt und selten, nehme ich an.«
Er machte sich wie ein Verrückter Notizen, und seine Zweifel schmolzen in der Sonne meines Lächelns dahin. Er war so froh, etwas zu tun zu haben!
»Vermieten Sie keinesfalls meinen Besitz auf dem Boulevard du Temple«, sagte ich. »Und selbstverständlich werden Sie sich all meiner Angelegenheiten annehmen.« Und so weiter und so fort.
Mein Besitz auf dem Boulevard du Temple, das Versteck eines Haufens zerlumpter und verzweifelter Vampire, es sei denn, Armand hatte sie bereits aufgespürt und wie ein paar alte Kostüme verbrannt. Und wie es darum stand, sollte ich bald genug erfahren.
Als ich die Treppe hinunterging, pfiff ich mir nach Menschenart ein Liedchen, überglücklich, diese unerquickliche Aufgabe erledigt zu haben. Und dann merkte ich, daß Nicki und Gabrielle nirgends zu sehen waren.
Ich blieb stehen und drehte mich ein paarmal um.
Ich erblickte Gabrielle in dem Moment, da ich ihre Stimme hörte, eine schlanke Knabengestalt, die aus einer Seitengasse auftauchte, als habe sie sich in dieser Sekunde materialisiert.
»Lestat, er ist weg - verschwunden«, sagte sie.
Ich konnte ihr nicht antworten. Ich sagte etwas Blödsinniges wie, »Was heißt verschwunden?!« Aber meine Gedanken übertönten gewissermaßen die Worte in meinem Kopf. Alle Zweifel an meiner Liebe zu ihm waren wie fortgeblasen.
»Ich hatte mich nur kurz umgedreht, es ging alles so schnell«, sagte sie. Sie war gleichermaßen bedrückt wie verärgert.
»Hast du gehört, ob andere… «
»Nein. Nichts. Er war einfach zu schnell.«
»Wenn er von allein abgehauen, wenn er nicht verschleppt worden ist…«
»Ich hätte seine Angst gehört, wenn Armand ihn verschleppt hätte«, beharrte sie.
»Aber kann er Angst empfinden? Kann er überhaupt etwas empfinden?« Ich war vor Schreck völlig aufgewühlt. Er war in der Dunkelheit verschwunden, die sich um uns legte wie ein gewaltiges Rad um seine Achse. Ich ballte meine Faust.
»Hör mir zu«, sagte sie. »Seine Gedanken drehen sich pausenlos nur um zwei Dinge…«
»Sag schon!«
»Einmal um den Scheiterhaufen unter Les Innocents, auf dem er beinahe gelandet wäre. Und dann um ein kleines Theater - Rampenlichter, eine Bühne.«
»Renauds«, sagte ich.
Keine Viertelstunde später hatten wir den lärmenden Boulevard erreicht, und wir stoben durch die Menschenmenge zum Bühneneingang von Renauds Theater.
Alle Schlösser waren aufgebrochen. Aber von EIeni und den anderen hörte ich keinen Laut, als wir hinter die Bühne gingen. Niemand da.
Vielleicht hatte Armand seine Kinder doch wieder eingesammelt, und das war dann meine Schuld, weil ich mich geweigert hatte, sie aufzunehmen.
Nichts außer dem Urwald aus Kulissen, den großen, bemalten Leinwänden, die Tag und Nacht und Berg und Tal darstellten, und den offenen Schminkräumen, diesen vollgestopften, kleinen Kabinen, in denen da und dort ein Spiegel im Licht glänzte, das durch den geöffneten Bühneneingang sickerte.
Dann ergriff Gabrielle meinen Ärmel. Sie wies in Richtung Kulissen. Und ihr Gesicht verriet mir, daß nicht die anderen da waren. Nicki war da.
Ich ging zur Rampe. Der Samtvorhang war vollständig aufgezogen, und ich sah seine Silhouette im Orchestergraben. Er saß auf seinem alten Platz, die Hände in den Schoß gelegt. Er sah mich an, bemerkte mich aber nicht. Er stierte wie üblich glasigen Blicks in die Luft.
Ich hielt nach der Geige Ausschau, und als ich sie nirgends sah, dachte ich: Noch ist nicht alles verloren.
»Bleib hier und paß auf ihn auf«, sagte ich zu Gabrielle. Mein Herz schlug mir bis zum
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