Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
wachsen. Darin soll das Wirken des satanischen Meisters seine Erfüllung finden, daß er wildes Gras und dichte Wälder alle Spuren der einst großen Städte tilgen sieht, bis nichts mehr bleibt.«
»Und warum soll das satanisch genannt werden?« fragte ich. »Warum es nicht schlicht Chaos nennen? Darauf läuft es doch hinaus.«
»Weil«, sagte sie, »die Menschen es so bezeichnen würden. Sie haben Satan doch erfunden, oder? Satanisch ist das Wort, das sie jenen anhängen, die die geordneten Bahnen sprengen, in denen sie sich so gerne bewegen.«
»Verstehe ich nicht.«
»Nun, mach doch mal Gebrauch von deinem übernatürlichen Hirn, mein blauäugiger Liebling«, antwortete sie, »mein Goldjunge, mein hübscher Wolftöter. Es ist sehr gut möglich, daß Gott die Welt erschaffen hat, wie Armand sagte.«
»Das hast du also in den Wäldern entdeckt? Haben es dir die Blätter zugeflüstert?«
Sie lachte mich aus.
»Natürlich muß Gott nicht unbedingt von menschenähnlicher Gestalt sein«, sagte sie. »Oder das, was wir in unserem maßlosen Egoismus und unserer Gefühlsduselei »einen anständigen Kerl< nennen. Aber wahrscheinlich gibt es Gott. Satan jedoch war eine Erfindung der Menschen, eine Bezeichnung für die Macht, die den zivilisierten Gang der Dinge zu stören trachtet. Der erste Mensch, der Gesetze eingeführt hat - ob Moses oder ein frühägyptischer König wie Osiris -, hat den Teufel erschaffen. Der Teufel hat die Aufgabe, dich zu verrühren, die Gesetze zu brechen. Und wir sind wahrhart satanisch, da wir keinem Gesetz gehorchen, das dem Schutz der Menschen dient. Warum also auf halbem Wege stehenbleiben? Warum nicht eine Feuersbrunst des Bösen entfachen, die alles Menschenwerk auf Erden hinwegfegt?«
Ich konnte vor Entsetzen nicht antworten. »Keine Angst.« Sie lachte. »Ich mach’s schon nicht. Aber ich möchte wissen, was in den nächsten Jahrzehnten alles passieren wird. Wird sich nicht irgend jemand daranmachen?«
»Hoffentlich nicht!« sagte ich. »Oder besser gesagt, wenn einem der Unseren derlei in den Sinn kommt, wird es Krieg geben.«
»Warum? Alle werden sich ihm anschließen.«
»Ich nicht. Ich werde den Krieg erklären.«
»Ach, du bist zu komisch, Lestat«, sagte sie. »Es ist läppisch«, sagte ich.
»Läppisch?« Sie hatte die ganze Zeit in den Hof geblickt, aber jetzt sah sie mich an, und die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. »Alle Städte der Welt zum Einsturz bringen nennst du läppisch? Ich konnte ja verstehen, als du das Theater der Vampire so bezeichnet hast, aber jetzt widersprichst du dir.«
»Es ist läppisch, etwas zu zerstören, nur um des Zerstörens willen, findest du nicht?«
»Du bist unmöglich«, sagte sie. »Irgendwann in ferner Zukunft wird es wohl einen solchen Meister geben. Er wird die Menschen auf ihre ursprüngliche Nacktheit und Angst reduzieren. Und wir werden uns von ihnen mühelos ernähren, wie wir es schon immer getan haben, und der Wilde Garten, wie du es nennst, wird die Welt überziehen.«
»Ich hoffe fast, daß das jemand versucht«, sagte ich. »Denn ich würde mich gegen ihn erheben und nichts unversucht lassen, ihn zu besiegen. Und vielleicht kann ich erlöst werden. Zumindest könnte ich wieder vor mir selbst in Güte bestehen, wenn ich mich aufmachen würde, die Menschheit davor zu erretten.«
Ich war sehr wütend. Ich hatte mich von meinem Stuhl erhoben, um in den Hof hinauszugehen. Sie folgte mir stehenden Fußes. »Du hast gerade die älteste Begründung geliefert, die die Christenheit für die Notwendigkeit des Bösen anführt«, sagte sie. »Es sei notwendig, damit wir es bekämpfen und Gutes tun könnten.«
»Wie langweilig und dumm«, sagte ich.
»In einer Hinsicht werde ich wirklich nicht aus dir schlau«, sagte sie. »Du klammerst dich an deinen alten Glauben an das Gute mit einer Hartnäckigkeit, die wahrhaft einmalig ist. Doch gleichzeitig bist du auch ein guter Vampir. Du jagst deine Opfer wie der leibhaftige Todesengel. Du bringst sie brutal um. Du saugst sie die ganze Nacht lang aus, wenn es dir beliebt.«
»Und?« Ich sah sie kühl an. »Ich lehne es nur ab, in meiner Schlechtigkeit schlecht zu sein.« Sie lachte. »Als junger Mann war ich ein guter Schütze«, sagte ich, »ein guter Schauspieler. Und jetzt bin ich ein guter Vampir. Soviel zur Interpretation des Wortes ›gut‹.«
Nachdem sie sich entfernt hatte, legte ich mich auf die Steinplatten im Hof, blickte zu den Sternen empor und dachte an all die
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