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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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muß noch andere Möglichkeiten geben.«
    Ihre beiden letzten Sätze trafen mich wie ein Keulenschlag. Ich hatte immer geglaubt, ich könnte nicht ein guter Mensch sein und gleichzeitig meine Familie bekämpfen. Cut sein hieß, sich von ihnen besiegen zu lassen.
    Eine Zeitlang saßen wir schweigend nebeneinander. Wir fühlten uns einander näher als je zuvor. Sie blickte ins Feuer und fuhr sich durch ihr volles Haar, das auf ihrem Hinterkopf zu einer Schnecke gewunden war. »Weißt du, was ich mir vorstelle?« sagte sie. »Nicht mal so sehr, sie umzubringen, als sich auf eine Weise gehenzulassen, die sie völlig ignoriert. Ich stelle mir vor, Wein zu trinken, bis ich so blau bin, daß ich meine Kleider abwerfe und nackt in den Gebirgsbächen bade.«
    Beinahe hätte ich gelacht. Ich sah sie an, da ich einen Moment lang meinen Ohren nicht getraut hatte. Aber sie hatte diese Worte tatsächlich ausgesprochen, und sie war noch nicht zu Ende.
    »Und dann stelle ich mir vor, wie ich hinunter ins Dorf laufe und in die Wirtschaft gehe und mit jedem Mann dort schlafe - mit Bauernlümmeln, großen Männern, alten Männern, Buben. Einfach nur so daliegen und einen nach dem anderen nehmen und dieses herrliche Triumphgefühl auskosten, ohne auch nur einen Gedanken an deinen Vater und deine Brüder zu verschwenden, ohne mich darum zu kümmern, ob sie tot oder lebendig sind. In diesem Moment bin ich nur ich selbst. In diesem Moment gehöre ich niemandem.«
    Ich war zu erstaunt und zu schockiert, um irgend etwas zu sagen. Und doch hatten ihre Worte auch wieder etwas unbeschreibbar Komisches an sich. Es bereitete mir unendliches Vergnügen, mir auszumalen, wie mein Vater und meine Brüder und die aufgeblasenen Ladeninhaber im Dorf auf so etwas reagieren würden. Es war fast zum Totlachen. Wenn ich dennoch nicht taut gelacht habe, dann wahrscheinlich nur, weil ich glaubte, daß dies beim Gedanken an meine nackte Mutter nicht schicklich gewesen wäre. Aber ganz ruhig konnte ich nicht bleiben. Ich kicherte ein wenig, und sie nickte mir lächelnd zu und hob ihre Augenbrauen, als wollte sie sagen: »Wir verstehen uns.«
    Schließlich brach ich in brüllendes Gelächter aus. Ich schlug mir auf die Schenkel, und beinahe hätte sie selbst gelacht. Vielleicht hat sie ja auch auf ihre eigene stille Weise gelacht.
    Was für ein seltsamer Anblick! Wir verstanden uns wirklich, und aller Groll, den ich gegen sie gehegt hatte, zählte nicht mehr.
    Sie zog die Nadel aus ihrem Haar und ließ es auf ihre Schultern fallen. Danach saßen wir wohl eine Stunde schweigend nebeneinander. Kein Gelächter mehr, kein Wort mehr. Nur noch das lodernde Feuer, und sie ganz nahe bei mir.
    Sie hatte sich dem Feuer zugewandt. Ihr Profil, ihre feingeschnittene Nase, ihre zierlichen Lippen waren schön anzusehen. Dann blickte sie mich wieder an, und mit fester, fast gefühlloser Stimme sagte sie: »Ich werde nicht mehr von hier fortgehen. Ich sterbe bald.«
    Ich war wie betäubt. Der kleine Schock zuvor war nichts gegen das.
    »Den Frühling werde ich überleben«, fuhr sie fort, »und vielleicht auch den Sommer, aber nicht noch einen Winter. Das weiß ich. Meine Lungen schmerzen zu sehr.«
    Ich stöhnte auf vor Pein. Ich glaube, ich beugte mich vor und sagte: »Mutter!«
    »Sag nichts mehr«, antwortete sie. Ich glaube, sie haßte es, Mutter genannt zu werden, aber ich hatte es nicht ändern können. »Ich wollte es nur jemandem anvertrauen«, sagte sie. »Ich wollte es laut ausgesprochen hören. Der Gedanke daran ist blankes Entsetzen. Ich habe Angst.«
    Ich wollte ihre Hände ergreifen, aber ich wußte, daß sie das niemals zugelassen hätte. Sie wollte nicht angefaßt werden. Sie hat nie jemanden in ihre Arme genommen. Und so hielten wir uns mit Blicken umfangen, während meine Augen sich mit Tränen füllten.
    Sie streichelte meine Hand. »Denk nicht daran«, sagte sie. »Ich tu’s ja auch nicht. Nur ab und zu. Aber du mußt bereit sein, ohne mich zu leben, wenn die Zeit kommt. Und das könnte dir schwerer fallen, als du ahnst.«
    Ich versuchte, etwas zu sagen, aber die Worte blieben mir im Halse stecken. Dann verließ sie mich so leise, wie sie gekommen war. Und obgleich sie keinen Ton über meine Kleider oder meinen Bartwuchs oder mein schreckliches Aussehen gesagt hatte, schickte sie die Diener zu mir, um mir frische Kleider und das Rasiermesser und warmes Wasser zu bringen, und stumm gab ich mich ihrer Obhut hin.

3
    Allmählich fühlte ich mich etwas besser.

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