Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
Ich dachte nicht mehr an mein Erlebnis mit den Wölfen, ich dachte an meine Mutter.
Ich dachte über den Ausdruck »blankes Entsetzen« nach und wußte nicht, was das bedeuten sollte, auch wenn ich eine Wahrheit darin spürte. Ich würde mich nicht anders fühlen, wenn ich langsam sterben müßte. Dann schon lieber auf dem Berg mit den Wölfen.
Aber da schwang noch etwas anderes mit. Im Innersten war sie immer unglücklich gewesen. Sie haßte unser träges und hoffnungsloses Leben genauso wie ich. Und jetzt, nach acht Kindern, drei lebenden und fünf toten, ging es ans Sterben. Ihr Ende war gekommen.
Um ihr eine Freude zu bereiten, beschloß ich aufzustehen. Aber als ich es versuchte, versagten meine Kräfte. Der Gedanke an ihren Tod war unerträglich, und so wanderte ich in meinem Zimmer rastlos auf und ab, aß die Mahlzeiten, die man mir brachte, aber ich ging nicht zu ihr.
Am Ende des Monats mußte ich schließlich mein Zimmer verlassen, weil Besuch kam. Meine Mutter kam zu mir und sagte, ich müsse die Händler aus dem Dorf empfangen, die mir, da ich die Wölfe getötet habe, ihre Ehrerbietung erweisen wollten.
»Ach, zum Teufel mit ihnen«, antwortete ich.
»Nein, du mußt hinunterkommen«, sagte sie. »Sie haben Geschenke für dich. Tu deine Pflicht.«
Wie ich all das haßte! Als ich die Eingangshalle betrat, waren darin die reichen Kaufleute versammelt, lauter Männer, die ich gut kannte, und alle dem Anlaß gemäß gekleidet.
Aber unter ihnen war ein auffallender, junger Mann, den ich nicht sofort wiedererkannte. Er war ungefähr so alt wie ich, ziemlich groß, und als sich unsere Blicke trafen, begriff ich, wer er war. Nicolas de Lenfent, der älteste Sohn des Tuchhändlers. Nicolas de Lenfent, den man nach Paris geschickt hatte, damit er dort studierte.
Er sah umwerfend aus. Angetan mit einem golddurchwirkten Brokatmantel, trug er Schuhe mit goldenen Absätzen, und seinen Kragen zierte italienische Spitze. Nur sein Haar war unverändert, dunkel und sehr lockig, und es sah irgendwie kleinjungenhaft aus, obwohl es mit einem Seidenbändchen zurückgebunden war. Neueste Pariser Mode. Und ich stand ihm gegenüber in meinem abgewetzten Gewand, meinen ausgetretenen Lederstiefeln und meinem vergilbten, siebzehnmal gestopften Spitzenhemd.
Wir verbeugten uns voreinander, da er offensichtlich der Sprecher der Delegation war, und dann packte er einen großen, roten, pelzgesäumten Samtmantel aus. Seine Augen leuchteten, als er seinen Blick auf mich heftete. Man hätte denken können, daß er einem Monarchen gegenüberstand.
»Monsieur, wir bitten Sie, das anzunehmen«, sagte er sehr ernst. »Der beste der Wolfspelze hat Verwendung für diesen Saum gefunden, und wir dachten, dieser Mantel könne Ihnen im Winter zu Diensten sein, wenn Sie zur Jagd ausreifen.«
»Und diese ebenfalls, Monsieur«, sagte sein Vater und überreichte mir ein Paar pelzgefütterte Wildlederstiefel. »Für die Jagd, Monsieur«, sagte er.
Ich war gerührt. Das waren Gesten aufrichtigen Wohlwollens, einem Aristokraten dargeboten von Männern, die über einen Wohlstand verfügten, von dem ich nur träumen konnte. Und so nahm ich den Mantel und die Stiefel entgegen und dankte ihnen überschwenglicher, als ich mich jemals für irgend etwas bei irgend jemandem bedankt hatte. Und dann hörte ich, wie hinter mir mein Bruder Augustin sagte: »Jetzt ist er erst recht unmöglich!«
Mein Gesicht verfärbte sich. Wie unverschämt, so etwas vor all den Leuten zu sagen, aber als ich Nicolas de Lenfent einen Blick zuwarf, entging mir nicht, daß er mich voller Mitgefühl ansah.
»Auch ich bin unmöglich, Monsieur«, flüsterte er, als ich ihn zum Abschied küßte. »Darf ich wieder einmal vorbeikommen, damit Sie mir erzählen können, wie Sie sie alle getötet haben? Nur der Unmögliche vermag das Unmögliche zu tun.«
Keiner dieser Kaufleute hatte jemals mit mir in dieser Weise gesprochen. Einen Augenblick lang waren wir wieder Buben. Und ich lachte laut auf. Sein Vater war verwirrt. Meine Brüder hörten zu flüstern auf, aber Nicolas de Lenfent lächelte mit weltmännischer Gelassenheit.
Sobald sie gegangen waren, nahm ich meinen roten Samtmantel und meine Wildlederstiefel und begab mich in das Zimmer meiner Mutter. Wie üblich war sie in ein Buch vertieft, während sie sich mit einer Bürste langsam durchs Haar fuhr, in dem ich zum erstenmal ein paar graue Strähnen bemerkte. Ich erzählte ihr, was Nicolas de Lenfent gesagt hatte.
»Warum
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