Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
und augenblicklich zu reden anfing. »Ich weiß, wie das ist«, sagte sie. »Du haßt sie. Weil sie nicht wissen, was du durchgemacht hast. Sie haben einfach nicht die Phantasie, um sich vorstellen zu können, was dir da draußen auf dem Berg widerfahren ist. Genauso war es, als ich zum erstenmal ein Kind zur Welt brachte. Die Wehen dauerten zwölf Stunden, und ich wußte, daß mich nur die Geburt oder mein Tod von meinen Schmerzen befreien könnten. Als es überstanden war, hielt ich deinen Bruder Augustin im Arm, aber ich wollte sonst keine Menschenseele sehen. Ich machte niemandem einen Vorwurf, ich hatte nur Stunde um Stunde diese Höllenqualen durchgemacht und war der Hölle entronnen. Sie dagegen waren nicht in der Hölle gewesen. Und mit einemmal fühlte ich mich ganz ruhig. Während dieses alltäglichen Vorgangs, dieses vulgären Akts der Geburt, begriff ich, was es heißt, völlig einsam zu sein.«
»Ja, das ist es«, erwiderte ich, ein wenig betroffen von ihren Worten. Sie antwortete nicht. Das hätte mich auch überrascht. Sie hatte gesagt, was sie zu sagen hatte. Dafür legte sie mir die Hand auf die Stirn - etwas, das sehr ungewöhnlich für sie war -, und erst als sie bemerkte, daß ich noch immer meine blutverschmierte Jagdkleidung trug, fiel auch mir das auf.
Sie schwieg eine Weile. Und als ich so dasaß und an ihr vorbei in das Feuer blickte, wollte ich ihr so vieles sagen und besonders, wie sehr ich sie liebte. Aber ich war vorsichtig. Sie hatte so eine Art, mir ins Wort zu fallen, und auch wenn ich sie liebte, so gab es doch einiges, was ich ihr nicht verzeihen konnte.
Mein Leben lang hatte ich ihr zugesehen, wie sie ihre italienischen Bücher las und Briefe an Leute in Neapel kritzelte, wo sie aufgewachsen war, und doch hatte sie nicht einmal die Geduld, mir oder meinen Brüdern das Alphabet beizubringen. Und daran hatte sich selbst dann nichts geändert, als ich aus dem Kloster zurückgebracht worden war.
Ich war über zwanzig und konnte nichts lesen oder schreiben außer meinem Namen und ein paar Gebeten. Ich haßte den schieren Anblick ihrer Bücher; ich haßte es, wenn sie sich in sie vertiefte. Und auf verschwommene Weise haßte ich es auch, daß ich ihr nur in Phasen extremsten Leids ein klein wenig Wärme und Interesse abnötigen konnte.
Und doch hatte sie mich gerettet. Und nur sie. Und ich war meines Alleinseins so überdrüssig, wie es vielleicht nur ein junger Mensch sein kann. Und genügte es denn nicht, daß sie jetzt hier war, daß sie ihren Bibliothekskerker verlassen hatte, um mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken?
Als ich daher sicher war, daß sie nicht wieder aufstehen und fortgehen würde, drangen mir schließlich die Worte wie von selbst über die Lippen. »Mutter«, sagte ich leise, »das ist nicht alles. Es gab Zeiten, da ich schreckliche Gedanken hatte.« Sie verzog keine Miene. »Das heißt, manchmal träume ich, daß ich sie alle umbringe. Im Traum bringe ich meine Brüder und meinen Vater um. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer und schlachte sie ab, wie ich die Wölfe abgeschlachtet habe. Ich spüre in mir das Verlangen zu morden…«
»Ich auch, mein Sohn«, sagte sie. »Ich auch.« Und ein merkwürdiges Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen, als sie mich ansah.
»Ich höre mich dann schreien«, fuhr ich leise fort. »Ich sehe mein Gesicht zu einer Fratze entstellt und höre, wie sich meinem Mund brüllende, kreischende Laute entwinden.«
Sie nickte verständnisvoll.
»Und auf dem Berg, Mutter, als ich mit den Wölfen kämpfte… da war es auch ein bißchen so.«
»Nur ein bißchen?« fragte sie.
Ich nickte. »Ich hatte das Gefühl, nicht ich selbst zu sein, als ich die Wölfe tötete. Und jetzt weiß ich nicht, wer neben dir sitzt - dein Sohn Lestat oder der andere, der Killer.«
Sie schwieg lange Zeit. »Nein«, sagte sie endlich. »Das warst du, der die Wölfe getötet hat. Du bist der Jäger, der Krieger. Du bist stärker als jeder andere hier, das ist deine Tragödie.«
Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte zwar recht, aber das erklärte noch nicht mein Elend. Aber wozu sollte ich das aussprechen?
Sie wandte sich kurz von mir ab, dann blickte sie mich wieder an. »Aber du bestehst aus vielen Wesen«, sagte sie. »Nicht nur aus einem. Du bist auch der andere, der Killer. Und laß den Killer in dir nicht die Oberhand gewinnen, nur weil du sie haßt. Du brauchst nicht die Bürde des Mordes oder des Wahnsinns auf dich zu nehmen, nur um von hier fortzukommen. Es
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