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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Unschuld wiederzuerlangen. Nun, das ist natürlich alles Blödsinn. Wirkliche Primitive können die reinsten Monster sein. Sie haben nicht einmal eine Vorstellung von Unschuld. Kinder auch nicht. Aber die Zivilisation hat schließlich Menschen hervorgebracht, die sich unschuldig benehmen. Zum erstenmal sehen sie sich um und sagen: ›Was zum Teufel soll denn das alles?‹«
    »Schon. Aber ich bin nicht unschuldig«, sagte ich. »Gottlos, ja. Ich stamme von gottlosen Leuten ab, und ich bin froh darum. Aber ich weiß, was im praktischen Leben Gut und Böse ist, und ich bin Typhon der Brudermörder, nicht der Mörder Typhons, wie du sicherlich weißt.«
    Er nickte und hob seine Augenbrauen. Er mußte nicht mehr lächeln, um menschlich auszusehen. Selbst wenn sein Gesicht keinerlei Falten mehr aufwies, konnte ich jetzt sehen, wie sich Gefühle in seinen Zügen spiegelten.
    »Aber du richtest kein Gedankengebäude auf, um es zu rechtfertigen«, sagte er. »Das meine ich mit unschuldig. Du bist des Mordes an Sterblichen schuldig, weil du zu etwas gemacht wurdest, das sich von Blut und Tod ernährt, aber du bist nicht der Lüge schuldig, der philosophisch verbrämten Rechtfertigung.«
    »Schon.«
    »Gottlosigkeit ist wahrscheinlich der erste Schritt, um unschuldig zu werden«, sagte er, »um das Gefühl für Sünde und Unterordnung loszuwerden, die falsche Trauer um Dinge, die angeblich verschüttet sind.«
    »Unter Unschuld verstehst du also nicht einen Mangel an Erfahrung, sondern einen Mangel an Illusionen?«
    »Einen Mangel des Bedürfnisses nach Illusionen«, sagte er. »Liebe und Achtung für das, was sich vor deinen Augen abspielt.«
    Ich stöhnte. Ich lehnte mich jetzt auch in den Sessel zurück, um darüber nachzudenken, was das mit Nicki zu tun hatte und was Nicki über das Licht gesagt hatte, immerzu das Licht. Hatte er das gemeint?
    Marius war in Gedanken versunken. Auch er saß in den Sessel zurückgelehnt, wie schon die ganze Zeit, und er ließ den Blick zu dem nächtlichen Himmel hinter den geöffneten Türen schweifen, die Augen zusammengekniffen, den Mund leicht gestrafft.
    »Aber ich fühlte mich nicht allein von deiner Gesinnung angezogen«, sagte er, »von deiner Ehrlichkeit, wenn du so willst. Es war die Art und Weise, wie du einer der Unseren wurdest.«
    »Das weißt du also auch alles?«
    »Ja, alles«, sagte er, ohne weiter darauf einzugehen. »Du bist am Ende einer Epoche einer der Unseren geworden, zu einer Zeit, da die Welt ungeahnte Wandlungen durchmacht. Und bei mir war es nicht anders. Ich bin zu einer Zeit geboren und aufgewachsen, als die Antike, wie wir sie heute nennen, zu Ende ging. Die alten Religionen hatten ausgedient. Ein neuer Gott erschien.«
    »Und wann war das?« fragte ich erregt.
    »In den Jahren des Augustus, als Rom gerade eine Weltmacht geworden war, als der Glaube an die Götter so gut wie tot war.«
    Ich ließ ihn sehen, wie sich Erschütterung und Freude in meinem Gesicht malten. Ich zweifelte keinen Augenblick das an, was er sagte. Ich führte meine Hände an die Schläfen, als müßte ich mich ein wenig beruhigen.
    Aber er fuhr fort: »Die gewöhnlichen Leute haben damals noch immer an die Religion geglaubt«, sagte er, »nicht anders als heute. Sie hielten an alten Sitten fest, am Aberglauben, an Zeremonien, genau wie heute. Aber die Welt jener, die Gedanken schufen jener, die den Lauf der Geschichte bestimmten -, war eine gottlose und hoffnungslos intellektuelle Welt, wie es die europäische unserer jetzigen Zeit wieder ist.«
    »Den Eindruck hatte ich auch, als ich Cicero und Ovid und Lukrez las«, sagte ich.
    Er nickte und zuckte leicht mit den Schultern. »Achtzehnhundert Jahre mußten vergehen«, sagte er, »um wieder zum Skeptizismus zu gelangen, zu jener Sachlichkeit, die damals unsere alltägliche Geisteshaltung bestimmte. Dennoch wiederholt sich die Geschichte keineswegs. Das ist das Erstaunliche.«
    »Wie meinst du das?«
    »Sieh dich doch um! Europa ist im Umbruch. Der Wert des menschlichen Lebens wird mehr denn je geachtet. Die Philosophie ist an neue Entdeckungen in der Wissenschaft geknüpft, an neue Erfindungen, die die Lebensweise der Menschen von Grund auf ändern werden. Aber das ist eine andere Geschichte. Das ist die Zukunft. Was ich sagen will, ist, daß du am Ende der Epoche einer alten Weltanschauung geboren wurdest. Genau wie ich. Du bist ohne Glauben mündig geworden, und dennoch bist du nicht zynisch. So war es auch bei mir. Wir entsprangen

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