Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
Gegenstände durch bloße Willenskraft zu bewegen. Aber irgendwann kommt einem das nur noch primitiv vor.
Menschliche Gesten sind elegant. Im Fleisch liegt Weisheit, in der Art und Weise, wie der menschliche Körper Dinge ausführt. Ich mag das Geräusch meiner Schritte auf dem Boden, ich liebe es, Gegenstände zu betasten. Übrigens ist es anstrengend, auch nur kurze Strecken zu fliegen und Sachen allein mit dem Willen zu bewegen. Ich kann es tun, wenn es sein muß, wie du gesehen hast, aber mit den Händen geht es viel einfacher.«
Ich war entzückt und machte keinen Hehl daraus.
»Wenn man eine hohe Note laut genug singt, kann man ein Glas zerbrechen«, sagte er, »aber es kostet weit weniger Mühe, das Glas einfach zu Boden fallen zu lassen.«
Ich lachte offen heraus, und er beugte sich vor und berührte meine Hand, und ein Schreck durchfuhr mich. Wir waren in der Berührung verbunden. Und obwohl seine Haut so seidig war wie die aller Vampire, war sie doch weniger geschmeidig. Es war, als würde man von einer steinernen Hand in einem Seidenhandschuh berührt werden.
»Ich habe dich hierhergebracht, weil ich dir mein Wissen weiterreichen möchte«, sagte er. »Ich möchte mit dir alle Geheimnisse teilen, über die ich verfüge. Denn ich fühle mich aus verschiedenen Gründen zu dir hingezogen.«
Ich war wie hingerissen. Und ich sah sich uns die Möglichkeit einer überwältigenden Liebe eröffnen.
»Aber ich warne dich«, sagte er, »das ist nicht ganz ungefährlich. Ich habe nicht die letzten Antworten. Ich kann dir nicht sagen, wer die Welt erschaffen hat und warum der Mensch existiert. Ich kann dir nicht sagen, warum wir existieren. Ich kann dir nur mehr über uns erzählen als jeder andere, der dir bislang etwas erzählt hat. Ich kann dir JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN zeigen und kann dir sagen, was ich über sie weiß. Ich kann dir sagen, warum ich glaube, so lange überdauert zu haben. Dieses Wissen mag dich in gewisser Hinsicht ändern. Das ist alles, was Wissen wirklich vermag, nehme ich an…«
»Ja…«
»Aber wenn ich dir alles gegeben habe, was ich dir geben kann, wirst du genau da sein, wo du schon vorher warst: ein unsterbliches Wesen, das seinen Daseinszweck selbst herausfinden muß.«
»Ja«, sagte ich, »Daseinszweck.« Meine Stimme klang etwas verbittert. Aber es war gut, daß er es so deutlich aussprach, auch wenn ich in meinen Augen ein hungriges, bösartiges Geschöpf war, das hervorragend ohne Daseinszweck auskam, ein machtvoller Vampir, der sich immer genau das nahm, was er wollte, ohne sich um andere zu kümmern. Ob er wohl wußte, wie ausgemacht schrecklich ich war?
Der Zweck des Tötens war das Blut.
Akzeptiert. Das Blut und die reine Ekstase des Blutes. Und wenn wir es nicht haben, sind wir nur noch Hülsen, wie ich in der Erde Ägyptens.
»Bleibe der Warnung eingedenk«, sagte er, »daß die Gegebenheiten auch hinterher dieselben bleiben. Nur du hast dich vielleicht geändert. Du wirst vielleicht noch hilfloser sein als zuvor.«
»Aber was hat dich bewogen, ausgerechnet mich einzuweihen?« fragte ich. »Ganz bestimmt haben auch andere dich gesucht. Du weißt sicher, wo Armand ist.«
»Aus mehreren Gründen, wie ich schon andeutete«, sagte er. »Und der ausschlaggebende Grund ist die Art und Weise, wie du mich gesucht hast. In dieser Welt ist es nur wenigen um Wissen zu tun. Ob sterblich oder unsterblich, nur wenige fragen wirklich. Im Gegenteil, sie versuchen, dem Unbekannten Antworten abzuringen, die sie bereits vorgeformt haben - Rechtfertigungen, Bestätigungen, Trost, ohne den sie nicht leben können. Wirkliches Fragen heißt, dem Wirbelwind die Tür öffnen. Die Antwort kann die Frage und Frager zunichte machen. Aber du hast wirklich gefragt, seit du Paris vor zehn Jahren verlassen hast.«
Ich verstand das, wenn auch nur verschwommen.
»Du hast kaum vorgefaßte Meinungen«, sagte er. »Ja, du erstaunst mich, weil du so ungewöhnlich schlicht bist. Du willst nur eins. Du willst Liebe.«
»Schon«, sagte ich, die Schultern leicht zuckend. »Aber ist das nicht reichlich simpel?«
Er lachte gutmütig. »Nein. Eigentlich nicht. Es ist, als hätten achtzehnhundert Jahre westlicher Zivilisation einen Unschuldigen hervorgebracht.«
»Einen Unschuldigen? Du sprichst doch nicht von mir?«
»In diesem Jahrhundert wird so viel über die Würde der Wilden gesprochen«, erklärte er, »über die zersetzende Kraft der Zivilisation, über Mittel und Wege, unsere verlorene
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