Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
waren grün gesprenkelt, die Apfelbäume blühten. Und Nicolas und ich waren ständig zusammen. Wir machten Bergwanderungen, lagen auf sonnigen Wiesen, um Brot zu essen und Wein zu trinken, durchstreiften die Ruinen eines alten Klosters. Wir hielten uns in meinen Gemächern auf oder kletterten auf die Zinnen. Und wir suchten unser Zimmer in der Dorfschänke auf, wenn wir allzu betrunken und laut waren.
Und während die Wochen ins Land strichen, eröffneten wir einander immer mehr. Nicolas erzählte mir von seiner frühen Schulzeit, von den kleinen Enttäuschungen seiner Kindheit, von allen, die er gekannt und geliebt hatte. Und ich erzählte ihm von meinen schmerzlichen Erfahrungen - und schließlich von der alten Schande, da ich mit den italienischen Gauklern getürmt war.
Das war in jener Nacht, als wir wieder einmal in der Wirtschaft und, wie üblich, betrunken waren. Wir hatten den Grad der Trunkenheit erreicht, wo jedes Wort sinnbeladen scheint und den wir den Goldenen Augenblick zu nennen übereingekommen waren. Wir versuchten immer, diesem Augenblick soviel Dauer wie möglich zu geben, bis schließlich einer von uns bekennen mußte: »Ich kann dir nicht mehr folgen, ich fürchte, der Goldene Augenblick ist überschritten.«
In dieser Nacht sandte ich meinen Blick durch das Fenster zu dem Mond, der über den Bergen stand, und sagte im Goldenen Augenblick, es sei gar nicht so schlimm, daß wir nicht in Paris seien, daß wir uns nicht in der Opera oder der Comédie befänden und dem ersten Akt entgegenfieberten.
»Du und deine Pariser Theater«, sagte Nicolas. »Egal, worüber wir sprechen, du kommst immer wieder auf das Theater und die Schauspieler -«
Seine großen braunen Augen blickten zutraulich drein. Und so betrunken er auch war, in seinem roten Pariser Samtgehrock sah er noch immer äußerst adrett aus.
»Schauspieler und Schauspielerinnen sind Zauberer«, sagte ich. »Sie füllen die Bühne mit Leben, sie erfinden Dinge, sie sind schöpferisch.«
»Warte, bis du siehst, wie ihnen der Schweiß über die geschminkten Gesichter rinnt«, antwortete Nicolas.
»Du mußt reden«, sagte ich, »ausgerechnet du - einer, der alles aufgegeben hat, um sich dem Geigenspiel zu verschreiben.«
Nicolas wurde plötzlich schrecklich ernst, seiner inneren Kämpfe überdrüssig, wie es schien. »Das stimmt«, gab er zu.
Das ganze Dorf wußte, daß sich er und sein Vater nicht grün waren. Nicki weigerte sich, sein Studium in Paris wiederaufzunehmen.
»Du erweckst etwas zum Leben, wenn du musizierst«, sagte ich. »Du erschaffst etwas aus dem Nichts. Du bereicherst die Welt um etwas Gutes. Und das ist etwas ganz Geheiligtes für mich.«
»Ich mache Musik, und das macht mich glücklich«, sagte er. »Was soll daran schon heilig sein?«
Ich winkte ab, wie immer, wenn er zynisch wurde. »Mein ganzes Leben habe ich unter Menschen verbracht, die kein bißchen schöpferisch sind und die nichts bewegen«, sagte ich. »Schauspieler und Musiker - das sind Heilige für mich.«
»Heilige?« fragte er. »Geheiligt sein? Lestat, deine Sprache setzt mich in Erstaunen.«
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Du verstehst mich nicht. Ich spreche von einem bestimmten Charakter der Menschen und nicht von irgendwelchen Glaubensdingen. Ich spreche von jenen, die sich nicht mit einem nutzlosen Leben abfinden, nur weil es ihnen von Geburt an so vorgegeben scheint. Ich meine jene, die eigene Wege gehen, die arbeiten, Opfer bringen, Dinge bewegen…«
Er war sichtlich bewegt, und ich war ein wenig überrascht, daß ich mich zu solchen Worten hatte hinreißen lassen. Dennoch spürte ich, daß ich ihn irgendwie verletzt hatte.
»Darin liegt Glückseligkeit«, sagte ich. »Darin liegt etwas Heiliges. Und es bereichert die Welt um etwas Gutes, Gott hin, Gott her. Ich weiß das, so wie ich weiß, daß da draußen die Berge sind und die Sterne leuchten.«
Er schien traurig und verletzt zu sein. Aber im Moment dachte ich nicht an ihn. Ich dachte an das Gespräch, das ich mit meiner Mutter geführt hatte, und an die Vorstellung, daß man nicht gleichzeitig ein guter Mensch sein und seine Familie verabscheuen konnte. Aber ich war überzeugt von dem, was ich sagte…
Als ob er meine Gedanken lesen konnte, fragte er: »Aber du bist von alldem überzeugt?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte ich. Ich konnte es nicht mehr ertragen, ihn so traurig zu sehen.
Und wohl nur darum habe ich ihm die ganze Geschichte mit den Gauklern
Weitere Kostenlose Bücher