Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
»Oh!«, und dann sagte ich es lauter und lauter und lauter, und ich ließ die Weinflasche auf den Boden fallen und führte die Hände zum Kopf, formte die Lippen rund und sagte in einem fort:
»Oh, oh, oh!«
Es klang wie ein gewaltiger Schluckauf, den ich nicht unter Kontrolle zu bringen vermochte. Nicolas packte und schüttelte mich und sagte: »Lestat, hör auf!« Aber ich konnte nicht aufhören. Ich rannte zum Fenster, öffnete es hastig und sah zu den Sternen empor. Ich konnte ihren Anblick nicht ertragen. Ich konnte diese völlige Leere, diese Stille, diese totale Abwesenheit irgendeiner Antwort nicht ertragen, und ich fing an zu toben, als mich Nicolas ins Zimmer zog und das Fenster schloß.
»Es wird ja alles gut«, sagte er immer wieder. Jemand pochte an die Tür. Es war der Wirt, der wissen wollte, was los war. »Morgen ist alles wieder gut«, sagte Nicolas. »Du mußt nur schlafen.«
Wir hatten das ganze Haus aufgeweckt, aber ich konnte keine Ruhe geben. Ich stieß unentwegt diesen Laut aus. Und ich rannte aus der Wirtschaft. Nicolas mir dicht auf den Fersen, und ich rannte die Dorfstraße hinunter und dem Schloß entgegen und durch das Tor und hinauf in mein Zimmer.
»Du mußt nur ausschlafen«, versuchte Nicolas mich verzweifelt zu überzeugen. Ich hatte mich gegen die Wand gelehnt und hielt mir die Ohren zu, und wie von selbst drang dieser Laut hervor: »Oh, oh, oh.«
»Morgen früh«, sagte er, »ist alles wieder besser.«
Nichts war besser in der Frühe.
Und abends auch nicht, ja, mit wachsender Dunkelheit wurde es nur noch schlimmer.
Nach außen hin benahm ich mich wie ein normaler, zufriedener Mensch, aber in Wirklichkeit war ich am Boden zerstört. Ich zitterte. Meine Zähne klapperten. Ich konnte nichts dagegen machen. Alles um mich herum erfüllte mich mit Schrecken: die Dunkelheit, die alten Rüstungen in der Eingangshalle, der Streitkolben und der Morgenstern, mit denen ich die Wölfe bekämpft hatte, die Gesichter meiner Brüder was ich auch erblickte, hinter allem vermochte ich nur eins zu sehen: den Tod. Aber nicht den Tod, wie ich ihn früher aufgefaßt hatte, sondern wie ich ihn jetzt auffaßte.
Den echten Tod, unbedingt und unvermeidlich, unwiderruflich und keine Frage beantwortend.
Und in diesem unerträglichen Zustand tat ich etwas, was ich nie zuvor getan hatte.
Ich quälte die Menschen um mich herum unbarmherzig mit Fragen.
»Aber glaubst du denn an Gott?« fragte ich meinen Bruder Augustin. »Und wenn nicht, wie kannst du dann überleben?!«
»Glaubst du an irgendwas?« begehrte ich von meinem blinden Vater zu wissen.
»Wenn du wüßtest, daß du in dieser Minute sterben wirst, würdest du erwarten, Gott in der Finsternis zu sehen? Antworte mir!«
»Du bist verrückt, du warst schon immer verrückt!« brüllte er mich an. »Scher dich zum Teufel! Du bringst uns noch alle um den Verstand.« Er erhob sich, was ihm schwerfiel, da er verkrüppelt und blind war, und er versuchte, mir sein Trinkglas nachzuwerfen, aber er traf natürlich daneben.
Und die ganze Zeit über konnte ich weder den Anblick noch die Nähe meiner Mutter ertragen. Ich wollte sie nicht mit meinen Fragen malträtieren. Also ging ich zur Wirtschaft hinunter. Allein der Gedanke an den Hexenplatz war mir unerträglich. Keine zehn Pferde hätten mich dort hintreiben können. Ich hielt mir die Ohren zu und schloß meine Augen. »Geht weg!« sagte ich beim Gedanken an jene, die da gestorben waren, ohne jemals etwas verstanden zu haben.
Am zweiten Tag war noch immer keine Besserung eingetreten. Ich aß, trank und schlief, aber jeder wache Augenblick war reiner Schrecken und Schmerz. Ich besuchte den Dorfpfarrer und wollte wissen, ob er wirklich glaubte, daß Jesus leibhaftig bei der Einsegnung zugegen sei. Und nachdem ich mir seine stammelnden Antworten angehört hatte, ging ich verzweifelter fort, als ich gekommen war. »Aber wie könnt ihr leben, wie könnt ihr weiteratmen und durch die Welt laufen und arbeiten, wenn ihr wißt, daß es keine Erklärung gibt?« rief ich. Ich hatte alle Beherrschung verloren. Und dann sagte Nicolas, Musik würde mich vielleicht beruhigen. Er würde Geige spielen.
Ich hatte Angst vor der Macht der Musik. Aber wir gingen in den Obstgarten, und die Sonne schien, und Nicolas spielte alle Melodien, die er kannte, und ich saß mit verschränkten Armen und hochgezogenen Knien da, und meine Zähne klapperten, obwohl wir mitten in der heißen Sonne waren,
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