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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ihre weiße, weiche Haut; und ihr dünnes, schwarzes Haar streifte.
    »Tapferer, kleiner Wolfkiller«, sagte die Gestalt.
    Wie gebannt hielt ich inne. Keuchend und schweißüberströmt starrte ich sie an und sah ihr tiefzerfurchtes Gesicht nun deutlicher. Der Mund war zum Lächeln eines Possenreißers verzerrt.
    »O Gott, hilf mir, hilf mir…«, sagte ich zurücktaumelnd. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, daß so ein Gesicht sich überhaupt bewegen konnte, zu so einem zärtlichen Ausdruck fähig war, wie zu dem, mit dem es mich gerade anblickte. »Gott!«
    »Was ist das für ein Gott, Wolfkiller?« fragte sie. Ich drehte mich um und ließ einen markerschütternden Schrei ertönen. Ich spürte ihre Hände wie eiserne Klauen auf meinen Schultern, und während ich noch einmal verzweifelt den Kampf aufzunehmen versuchte, schleuderte sie mich herum, heftete ihre großen, dunklen Augen auf mich, und dann beugte sie sich lächelnd über mich, und ich spürte, wie sich ihre Zähne in meinen Hals gruben.
    Und aus längst vergangenen Kindheitserzählungen, aus alten Legenden, tauchte der Name auf wie etwas, das auf dem Grund eines Teiches geruht hatte und plötzlich ins Sonnenlicht an die Oberfläche schoß.
    »Vampir!«
    Noch einmal schrie ich auf wie ein Wahnsinniger und versuchte, die Gestalt mit aller Kraft fortzustoßen. Dann war alles ruhig. Vollkommene Stille.
    Ich wußte, daß wir noch immer auf dem Dach waren. Ich wußte, daß mich die Gestalt in ihren Armen hielt. Dennoch hatte ich das Gefühl, daß wir keinen Boden mehr unter den Füßen hatten, sondern schwerelos durch die Dunkelheit reisten.
    »Ja, ja«, wollte ich sagen, »genau.«
    Ein wohltönendes Geräusch umfing mich, vielleicht der Klang eines tiefen Gongs, der langsam und gleichmäßig geschlagen wurde, ein Klang, der höchst angenehm durch all meine Glieder strömte.
    Meine Lippen bewegten sich, aber sie blieben stumm; doch darauf kam es nicht an. Alles, was ich jemals hatte sagen wollen, stand mir deutlich vor Augen, nur darauf kam es an, nicht, daß es ausgesprochen wurde. Und es gab so viel Zeit, so unendlich viel Zeit, um etwas zu sagen, um etwas zu tun. Es gab keinen Grund zur Eile.
    Verzückung. Ich sagte das Wort, und ich wußte, was es bedeutete, dieses eine Wort, obwohl ich es nicht laut aussprechen oder meine Lippen bewegen konnte. Und mir fiel auf, daß ich nicht mehr atmete. Etwas atmete an meiner Statt, und zwar genau im Rhythmus der Gongschläge, und ich liebte diesen körperlosen, ewigen Rhythmus, und ich mußte nicht mehr atmen oder sprechen oder irgend etwas wissen.
    Meine Mutter lächelte mir zu. Und ich sagte zu ihr: »Ich liebe dich…« Und sie sagte: »Ja, immer geliebt, immer geliebt…« Und ich saß in der Klosterbibliothek, und ich war zwölf Jahre alt, und der Mönch sagte zu mir: »Ein großer Gelehrter.« Und ich schlug die Bücher auf und konnte alles lesen, Latein, Griechisch, Französisch. Die gemalten Buchstaben waren unbeschreiblich schön, und ich drehte mich um und sah mich dem Publikum in Renauds Theater gegenüber, und alle hatten sich erhoben, und eine Frau ließ den bemalten Fächer sinken, hinter dem sie ihr Gesicht verborgen hatte, und es war Marie Antoinette. »Wolfkiller«, sagte sie, und Nicolas rannte mir entgegen und beschwor mich zurückzukommen. In seinem Gesicht malten sich Qual und Pein, und sein Haar war zerwühlt, und seine Augen waren blutumrändert. Und er versuchte, mich festzuhalten, aber ich sagte: »Nicki, ziehe deiner Wege!« Und voll Schmerz bemerkte ich, daß der Klang des Gongs entschwand.
    Und ich schrie auf und flehte. Nicht aufhören, bitte, bitte. Ich will nicht… ich… bitte.
    »Lelio, der Wolfkiller«, sagte die Gestalt und hielt mich in ihren Armen, und ich schluchzte, da der Zauberbann brach.
    »Nicht, nicht!«
    Ich hatte meinen Körper wieder mit seinem Gewicht und seinem Leid und Schmerz, von Heulkrämpfen geschüttelt, und ich wurde emporgehoben, emporgeschleudert über die Schultern der Gestalt, und ich fühlte, wie sie ihren Arm um meine Knie legte.
    Ich wollte »Gott schütze mich« sagen, ich wollte es mit jeder Faser meines Körpers sagen, aber ich brachte kein Wort hervor, und unter mir waren wieder die Gassen, der Abgrund, und Paris neigte sich schräg, und dann umfingen mich nur noch Schnee und ein beißender Wind.

2
    Als ich erwachte, hatte ich großen Durst. Ich hatte Lust auf kalten Weißwein, von der Art, wie man ihn im Herbst aus dem Keller holt. Ich hatte

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