Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
es verzweifelt, aber du brauchst die Finsternis nicht.«
»Dummkopf«, sagte ich. »Wenn du dich sehen, wenn du deine Stimme, deine Musik hören könntest - die du freilich nur für dich spielst -, würde die Finsternis von dir weichen, Nicki. Du würdest dein ureigenes Licht erstrahlen sehen.«
Am nächsten Abend klappte die Aufführung besonders gut. Das Publikum ging so prächtig mit, daß wir ein paar Extraeinlagen wagten. Ich legte ein paar Tanzschritte hin, die bei den Proben immer reichlich lasch, aber nun auf der Bühne wahre Wunder wirkten. Und Nicki, der eine eigene Komposition spielte, entpuppte sich als Meister seines Instruments.
Aber gegen Ende der Vorstellung gewahrte ich wieder das mysteriöse Gesicht. Es verwirrte mich mehr denn je, und beinahe wäre ich bei meinem Schlußcouplet aus dem Takt geraten. Einen Augenblick lang drohten mir die Sinne zu schwinden.
Als Nicki und ich allein waren, mußte ich darüber sprechen - wie ich mitten auf der Bühne zu schlafen und zu träumen geglaubt hatte. Wir hockten mit unserem Wein am Kamin, und im Schein des flackernden Feuers sah Nicki so müde und niedergeschlagen aus wie in der vorigen Nacht. Ich wollte ihm keine Sorgen machen, aber ich konnte das Gesicht nicht vergessen.
»Nun, wie sieht er aus?« fragte Nicolas. Er wärmte sich die Hände. Und über seine Schultern hinweg erblickte ich durch das Fenster die schneebedeckten Dächer, die mich noch mehr frieren ließen. Mir gefiel diese Unterhaltung nicht.
»Das ist das Schlimmste«, sagte ich. »Ich nehme nur ein Gesicht wahr. Offenbar trägt er einen Mantel oder sogar eine Kapuze. Und dieses Gesicht sieht wie eine Maske aus, ganz weiß und seltsam deutlich. Die Falten seines Gesichts sind so tiefgefurcht, daß sie wie schwarz geschminkt aussehen. Es blitzt kurz auf, fast glühend, dann ist es sofort wieder verschwunden. Aber ich übertreibe, es ist alles viel versponnener…«
Meine Beschreibung schien Nicki nicht minder zu beunruhigen als mich. Er sagte nichts, aber er blickte weniger verhärmt drein, als würde er seine Trauer einen Augenblick vergessen.
»Na ja, ich möchte dir keine falschen Hoffnungen machen«, sagte er. »Aber vielleicht ist es eine Maske, die du da siehst. Vielleicht ist es jemand von der Comédie Francaise, der deine Schauspielkunst begutachten will.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wollte, es wäre so. Aber niemand würde eine solche Maske tragen. Und ich will dir noch etwas verraten.«
Er wartete, und ich spürte, wie meine Vorahnungen auch von ihm Besitz ergriffen. Er nahm die Weinflasche und füllte mein Glas nach.
»Wer immer es ist«, sagte ich, »er weiß über die Wölfe Bescheid.«
»Er weiß was?«
»Er weiß über die Wölfe Bescheid.« Es war, als würde ich von einem längst vergessenen Traum erzählen. »Er weiß, daß ich damals die Wölfe getötet habe. Er weiß, daß mein Mantel mit ihrem Fell gesäumt ist.«
»Was redest du da eigentlich? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein, aber es ist so«, sagte ich. Es war alles reichlich verwirrend und nebelhaft. »Ich habe nie ein Wort mit ihm gewechselt, ich war nie in seiner Nähe. Aber er weiß Bescheid.«
»Ach, Lestat«, sagte Nicolas. Er lehnte sich zurück und lächelte mich zartfühlend an. »Demnächst wirst du noch Gespenster sehen. Du hast die blühendste Phantasie, die mir je untergekommen ist.«
»Es gibt keine Gespenster«, sagte ich leise. Ich starrte in das Feuer und hing meinen finsteren Gedanken nach. Dann legte ich ein paar Scheite nach.
Nicolas wurde plötzlich sehr ernst. »Wie zum Teufel kann er etwas über die Wölfe wissen? Und wie kannst du…«
»Ich hab’ dir schon gesagt, ich weiß es nicht!« unterbrach ich ihn. Dann verstummte ich, so albern kam mir das alles vor.
Und während wir so schweigend zusammensaßen und dem Feuer lauschten, schoß mir das Wort Wolfkiller durch den Kopf, so deutlich, als hätte es jemand laut ausgesprochen.
Aber niemand hatte es ausgesprochen. Ich sah Nicki an, wohl wissend, daß kein Laut über seine Lippen gedrungen war, und das Blut wich mir aus dem Gesicht. Ich wurde nicht, wie so oft zuvor, vom Schrecken des Todes heimgesucht, sondern von einem Gefühl, das mir ganz ähnlich vorkam: Angst.
Ich saß noch immer da, zu verwirrt, um ein Wort sprechen zu können, als Nicolas mich küßte. »Laß uns zu Bett gehen«, sagte er sanft.
Teil 2
Das Vermächtnis des Magnus
1
Es muß drei Uhr morgens gewesen sein; ich hatte die Kirchenglocken in
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