Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
oder der Geruch des Todes erfüllte mich mit Abscheu, was zu meiner Natur zu gehören schien.
Hinrichtungen konnte ich sowenig zusehen wie einst als verschreckter Junge aus der Auvergne, und wenn ich eine Leiche sah, verhüllte ich mein Haupt. Ich glaube, der Tod war mir eine schlichte Beleidigung, sofern ich nicht seine Ursache war. Und selbst von meinen toten Opfern mußte ich mich immer fast augenblicklich entfernen.
Die Stunden flogen nur so dahin, während ich mich in der Stadt tummelte. Und nur widerwillig verließ ich die Gesellschaft der Menschen, um mich tagsüber in meinem Turm zu verbergen.
Doch immer häufiger fragte ich mich: »Wenn du mit ihnen tanzen, sprechen und Billard spielen kannst, warum kannst du dann nicht unter ihnen wohnen, so wie einst, als du noch lebtest? Warum solltest du nicht als einer der ihren durchgehen? Und am eigentlichen Leben teilnehmen, wo… was ist? Sag’s schon!«
Und dann kündigte sich allmählich der Frühling an. Die Nächte wurden wärmer, und mein Theater setzte ein neues Stück aufs Programm mit neuen, Akrobaten zwischen den Akten. Und die Bäume blühten wieder, und kein Augenblick verging, an dem ich nicht an Nicki dachte.
In einer Nacht im März machte ich eine seltsame Entdeckung. Roget las mir einen Brief meiner Mutter vor, als mir klarwurde, daß ich ebensogut wie er lesen konnte. Ich hatte praktisch ohne eigenes Zutun die Kunst des Lesens erlernt. Ich nahm den Brief mit nach Hause.
Sogar in meiner Turmkammer herrschten keine Wintertemperaturen mehr. Ich setzte mich ans Fenster und las erstmals ganz für mich die Worte meiner Mutter. Ich konnte fast ihre Stimme hören:
»Nicolas schreibt, daß Du Renauds Unternehmen erworben hast. jetzt besitzt Du also Dein eigenes kleines Theater an jenem Boulevard, der Dir soviel Glück bedeutet hatte. Aber besitzt Du auch noch das Glück? Wann antwortest Du mir?«
Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in meine Tasche. Bluttränen schössen mir in die Augen. Warum verstand sie so viel und doch so wenig?
11
Die Winterstürme waren Frühlingswinden gewichen. Alle Gerüche der Stadt erblühten aufs neue. Und die Märkte waren voller Blumen. Ich hetzte ohne Sinn und Verstand zu Roget und fragte ihn nach Nicolas’ Adresse.
Ich wollte nur kurz vorbeischauen, mich überzeugen, daß es ihm gut ging, daß er in einem angemessen vornehmen Haus wohnte.
Es lag auf der Ile St.-Louis und war in seiner Stattlichkeit ganz nach meinem Geschmack, doch zu den Quais hin waren alle Fensterläden verschlossen.
Lange blieb ich in den Anblick des Hauses versunken, während die Kutschen über die nahegelegene Brücke ratterten. Und ich wußte, daß ich Nicki einfach sehen mußte.
Ich kletterte die Fassade empor, so wie damals im Dorf, und es bereitete mir nicht die geringste Mühe. Stockwerk um Stockwerk kletterte ich hinan, höher als jemals zuvor, und dann eilte ich über das Dach und ließ mich an der Hofseite hinunter, um Nickis Wohnung zu suchen.
Ich glitt an ein paar offenstehenden Fenstern vorbei, ehe ich das richtige ausgekundschaftet hatte. Und da war Nicolas fürstlich tafelnd, und bei ihm waren Jeannette und Luchina, und sie aßen spät zu Nacht, wie früher wir alle zusammen, wenn das Theater aus war.
Als ich ihn erblickte, prallte ich vom Fensterflügel zurück und schloß die Augen. Ich hatte das Zimmer nur den Bruchteil einer Sekunde gesehen, und doch hatte sich mir jedes Detail eingegraben.
Er hatte jene alte, grüne Samtkleidung an, die er in den heimatlichen Gassen so zwanglos zu tragen verstanden hatte. Doch überall prangten die Luxusgegenstände, die ich ihm hatte zukommen lassen - ledergebundene Bücher in den Regalen, ein mit Intarsien verzierter Schreibtisch, ein ovales Gemälde, nicht zu vergessen die italienische Geige auf dem neuen Pianoforte.
Er trug den kostbaren Ring, den ich ihm geschickt hatte, und sein braunes Haar war mit einem schwarzen Seidenband zurückgeschnürt, und er saß brütend da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und rührte keinen Bissen an.
Vorsichtig öffnete ich meine Augen und sah ihn wieder an. Das gleißende Kerzenlicht beleuchtete seine zarten, doch sehnigen Glieder, seine großen, nüchternen braunen Augen und seinen Mund, der trotz aller Sarkasmen, die er von sich gab, kindlich weich war. Er schien von einer inneren Zerbrechlichkeit zu sein, die ich nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Aber er sah auch unendlich intelligent aus, mein Nicki, und eine Fülle
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