Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
Hand. Aus allen Ecken und Enden quollen Menschen hervor, und ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als mich von einem qualmenden Kandelaber zurückzuziehen und hastig die Worte zu sprechen: »Meine Augen … ausmachen.«
»Löscht die Kerzen, sie tun seinen Augen weh, merkt ihr das nicht?« keifte Jeannette. Alle umringten mich, sogar die Akrobaten, die mich nicht einmal kannten, aber auch die altbekannten Kulissenmaler und Theaterschreiner, die mir so viel beigebracht hatten. Luchina sagte: »Holt Nicki.« Und fast hätte ich nein geschrien.
Applaus erschütterte das kleine Theater. Der Vorhang wurde zugezogen, und sofort belagerten mich die altbekannten Schauspieler, und Renaud rief nach Champagner.
Ich hielt mir die Augen zu, da ich mir wie ein Basilisk vorkam, der alles tötet, was in sein Blickfeld gerät, und ich war den Tränen nahe, war aber so eng umringt, daß ich mein Taschentuch nicht hervorziehen konnte. Und in einem schrecklichen Schwächeanfall schlang ich meine Arme um Jeannette und Luchina, und ich drückte mein Gesicht gegen Luchinas Gesicht. Wie kleine Vögelchen kamen sie mir vor, mit ihrem zarten Gebein, mit ihren flügelflatternden Herzen, und eine Sekunde lang lauschte ich mit dem Ohr des Vampirs dem Pulsschlag ihres Blutes, was mir geradezu unzüchtig vorkam. Ich gab mich ihren Umarmungen und Küssen hin, scherte mich nicht um das Klopfen ihrer Herzen, hielt sie umarmt und sog den Duft ihrer gepuderten Haut ein.
»Du hast ja keine Ahnung, was für Sorgen wir uns um dich gemacht haben!« dröhnte Renaud. »Und dann die Geschichten über dein Glück! Alle mal her!« Er klatschte in die Hände. »Das ist Monsieur de Valois, der Besitzer dieses hervorragenden Etablissements theatralischer Kunst…«, und er fuhr wortreich fort, mir Honig ums Maul zu schmieren, und zog die neuen Schauspieler und Schauspielerinnen herbei, auf daß sie mir die Hände küßten oder die Füße. Ich umklammerte die Mädchen, als müßte ich zerbersten, wenn ich sie losließe, und dann hörte ich Nicki, und ich wußte, daß er nur einen Schritt entfernt war und mich anstarrte und vor Glück, mich zu sehen, allen Schmerz vergessen hatte.
Ich hielt meine Augen geschlossen, aber ich spürte, wie seine Hand über mein Gesicht strich, und als er mir in die Arme sank, hatte ich Mühe, meinen inneren Aufruhr zu verbergen. Aber das Licht hier war dämmerig, und ich hatte wie ein Wahnsinniger Blut getrunken, um mir Körperwärme und menschliches Aussehen zu verleihen, und ich wußte nicht, zu wem ich beten sollte, daß mir die Täuschung gelänge. Und dann war für mich nur noch Nicolas da, und alles andere war mir egal.
Ich öffnete die Augen und sah ihm ins Gesicht.
Wie soll man nur beschreiben, wie Menschen für uns aussehen?! Wie soll ich beschreiben, was uns der Anblick lebendigen Fleisches bedeutet. Die Lebewesen, denen ja unsere ganze Aufmerksamkeit gilt, bestehen für uns aus Milliarden kleiner Farbpartikel und minutiöser Bewegungsabläufe. In unseren Augen sind alle Menschen schön, sogar die Alten und die Kranken. Sie sind alle wie sich ewig öffnende Blumen, wie ewig aus dem Kokon steigende Schmetterlinge.
All das sah ich, als ich Nicki sah, und ich roch sein pulsierendes Blut, und einen trunkenen Moment lang entbrannte ich in Liebe, eine Liebe, die alle Erinnerungen an die Schrecken löschte, die mich zu dem gemacht hatten, was ich war.
Aber noch etwas anderes wühlte mich auf. Es nahm so schnell überhand, daß ich kaum noch in der Lage war, mich zu beherrschen. Es war etwas Entsetzliches und Monströses und so natürlich für mich, wie die Sonne unnatürlich war. Ich wollte Nicki. Ich begehrte ihn wie jedes andere Opfer, mit dem ich auf der Ile de la Cité gekämpft hatte. Ich wollte sein wohlschmeckendes, duftendes, heißes Blut.
Aus dem Zuschauerraum ertönte Gejohle und Gelächter. Renaud befahl den Akrobaten, ihr Intermezzo über die Bühne zu bringen, und bat Luchina, den Champagner zu öffnen. Aber wir verharrten in unserer Umarmung, aus der ich mich erst löste, als ich in seiner Körperwärme zu erstarren drohte.
Und plötzlich überkam mich eine unbeschreibliche Wut. Ausgerechnet der Mensch, den ich wie meine Mutter liebte - der einzige Mensch, der mir zärtliche Gefühle entlockt hatte -, war eine uneinnehmbare Festung, trotzte in unschuldiger Ignoranz meinem Blutdurst, während Hunderte von Opfern sich kampflos hingegeben hatten.
Dazu also war ich ausersehen. Das also war der Weg, den zu
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