Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
wollte er eins werden mit der Musik. Dann verschwand sein Bild, und nur die Töne blieben.
Beseeltes Vibrato, schluchzende Glissandi, ein beredtes Singen, das keine andere Sprache zuließ. Doch je leidenschaftlicher die Musik wurde, desto verzweifelter klang sie auch, bis ihre Schönheit nur noch zufälliges Beiwerk einer aller Wahrheit entblößten Groteske war.
War das sein Glaubensbekenntnis, war das seine Antwort auf meine unendlichen Monologe über das Gute? Ließ er die Geige sprechen? Verkündeten diese langgezogenen, tropfenden Noten, daß ihm Schönheit nichts bedeute, da sie mit seiner Verzweiflung unvereinbar sei; und daß Verzweiflung niemals schön sein könne? Und daß Schönheit nur eine schauerliche Ironie sei?
Ich wußte keine Antwort. Aber die Musik wuchs über seine Verzweiflung hinaus, glitt mühelos in eine getragene Melodie, wie Wasser, das sich seinen Weg über einen Berghang sucht. Ich lag auf dem Dach, die Augen zu den Sternen gerichtet.
Winzige Lichtpünktchen, den Sterblichen unsichtbar. Geisterwolken. Und die rauhe, eindringliche Geigenmusik, die nach einem letzten Aufbäumen langsam verebbte.
Ich rührte mich nicht.
Ich war in stillem Einklang mit der Sprache, die die Geige mir zuraunte. Nicki, könnten wir doch wieder… Wenn sich »unser Gespräch« doch nur fortsetzen ließe.
Schönheit war kein trügerischer Schein, wie er glaubte, Schönheit war eher ein in keinem Atlas verzeichnetes Land, in dem man tausend tödlichen Irrtümern erliegen konnte, ein wildes und gleichgültiges Paradies, in dem es keine Wegweiser zum Guten oder Bösen gab.
Trotz der Kunstwerke, die die Zivilisation hervorgebracht hatte, trotz der schwindelerregenden Vollkommenheit eines Streichquartetts oder der atemberaubend großartigen Gemälde eines Fragonard blieb Schönheit etwas Wildes. Sie war so gefährlich und anarchisch, wie die Erde es gewesen war, Äonen ehe der Mensch den ersten vernünftigen Gedanken in seinem Kopf zusammengebraut oder Gesetze in Lehmtafeln geritzt hatte. Schönheit war ein wilder Garten.
Warum tat es ihm also weh, daß selbst die verzweifeltste Musik so voller Schönheit war? Warum wurde er zynisch darüber und traurig und argwöhnisch?
Gut und Böse waren Kategorien, die der Mensch sich ausgedacht hatte. Und der Mensch war wirklich besser als der wilde Garten.
Aber tief innen hatte Nicki vielleicht immer von einer allumfassenden Harmonie geträumt, die es, wie ich wußte, nicht geben konnte. Nicki hatte nicht von Güte geträumt, sondern von Gerechtigkeit.
Aber wir konnten über diese Dinge jetzt nicht mehr miteinander sprechen. Niemals wieder würden wir in dem Wirtshaus Zusammensein können. Vergib mir, Nicki. Gut und Böse gibt es noch und wird es immer geben. Aber »unser Gespräch« ist für immer vorbei.
Doch als ich das Dach verließ, mich lautlos von der Ile St.-Louis fortstahl, wußte ich, was ich tun würde. Ich gestand es mir nicht ein, aber ich wußte es.
Am nächsten Abend hatte ich mich verspätet, als ich auf dem Boulevard de Temple ankam. Ich hatte auf der Ile de la Cité ein vorzügliches Blutmahl gehabt, und der erste Akt hatte in Renauds Theater bereits begonnen.
12
Ich war gekleidet, als sei ich bei Hofe eingeladen - Silberbrokat von Kopf bis Fuß und eine lavendelfarbene Samtmantille über die Schultern geworfen. Ich trug einen neuen Degen mit reichverziertem Silbergriff, und meine Schuhe zierten die üblichen schweren, überladenen Schnallen, ansonsten Spitzen, Handschuhe, Dreispitz, das übliche eben. Und ich kam in einer Mietkutsche zum Theater.
Kaum hatte ich den Kutscher entlohnt, begab ich mich zur Rückseite des Gebäudes und öffnete den Bühneneingang, ganz so wie früher.
Sofort umfing mich wieder die alte Atmosphäre, der Geruch der Schminke, der billigen, verschwitzten, parfümierten Kostüme. Ich konnte einen Teil der erleuchteten Bühne sehen und das brüllende Gelächter aus dem Zuschauerraum hören. Eine Gruppe Akrobaten wartete auf ihre Einlage zwischen den Akten, ein Haufen Possenreißer in roten Strumpfhosen, Narrenkappen und gezackten Kragen mit kleinen, goldenen Glöckchen.
Einen Augenblick lang schwindelte mir, hatte ich Angst. Ich fühlte mich gefährlich eingeengt, und dennoch war es einfach wundervoll, wieder hier zu sein. Und Trauer erfüllte mich, nein, eigentlich eher Panik.
Luchina erblickte mich und stieß einen Schrei aus. Die Türen der Schminkräume flogen auf. Renaud stob mir entgegen und schüttelte mir die
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