Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
zu begreifen. Kein Zweifel. Menschen konnten nicht einfach technische Apparaturen anblicken und gleich ihren Mechanismus verstehen so wie er. Und die Art und Weise, wie ihm sofort alles vertraut war - das hatte schon etwas mit übermenschlichen Fähigkeiten zu tun. Es gab nichts, was ihn wirklich überraschen konnte. Weder die Quantenphysik noch Evolutionstheorien oder Gemälde von Picasso oder jene Methode, Kinder mit Bazillen zu impfen, um sie vor Krankheiten zu schützen. Es war, als sei er der Dinge gewahr gewesen, schon längst ehe er sich seines Daseins erinnern konnte. Lange ehe er sagen konnte: »Ich denke, also bin ich.« Aber ungeachtet all dessen war er noch immer dem Menschlichen verhaftet. Das konnte niemand abstreiten. Er konnte menschlichen Schmerz mit geradezu unheimlicher und beängstigender Vollendung spüren. Er wußte, was es bedeutete, zu lieben und einsam zu sein, ach ja, das vor allem wußte er, und am deutlichsten spürte er es, wenn er den Songs des Vampirs Lestat zuhörte. Und gerade darum schenkte er den Worten keine Beachtung.
Und noch etwas. Je mehr Blut er trank, desto menschlicher wurde sein Aussehen.
Als er das erste Mal in diesem Zeitalter aufgetaucht war, hatte er ganz und gar nicht menschlich ausgesehen. Er war ein ekelerregendes Skelett gewesen, das die Straße gen Athen entlangschlurfte, die Knochen nur mehr von einem Aderngewirr zusammengehalten und das Ganze in einem Sack weißer Haut schlotternd. Er hatte den Leuten Furcht und Schrecken eingejagt. Sie suchten das Weite, wenn sie ihn nur sahen, und selbst wenn sie in Autos saßen, drückten sie wie verrückt aufs Gaspedal. Aber er konnte ihre Gedanken lesen - sich selbst sehen, wie sie ihn sahen -, und er hatte Verständnis, und es tat ihm leid, selbstverständlich. In Athen angekommen, legte er sich Handschuhe zu, einen knöchellangen Umhang mit Plastikknöpfen und diese komischen modernen Schuhe, die den ganzen Fuß bedeckten. Sein Gesicht verhüllte er mit Tüchern, die nur mit Löchern für die Augen und den Mund versehen waren. Sein verdrecktes schwarzes Haar verbarg er unter einem grauen Filzhut.
Sie starrten ihn zwar immer noch an, aber wenigstens rannten sie nicht mehr schreiend davon. In der Abenddämmerung schlenderte er durch die dichtgedrängte Menge auf dem Omoniaplatz, und keiner schenkte ihm irgendwelche Beachtung.
Es gefiel ihm gut, dieses geschäftige Treiben in dieser alten Stadt, das in längst versunkenen Zeiten nicht weniger lebhaft gewesen war, als Studenten aus der ganzen damaligen Welt gekommen waren, um hier Philosophie und Kunst zu studieren. Er konnte zur Akropolis hochblicken und den Parthenon sehen, so wie er einst gewesen war, vollendet die Stätte der Gottheit. Nicht die Ruine, die er heute darstellt.
Die Griechen waren, wie schon immer, ein großartiges, freundliches und vertrauensvolles Volk. Sie hatten nichts gegen seine seltsame Kleidung. Wenn er mit seiner sanften Stimme ihre Sprache geradezu perfekt nachahmte, liebten sie ihn, auch wenn ihm zuweilen ein paar umwerfend komische Fehler unterliefen.
Überdies durfte er mit Befriedigung feststellen, daß er allmählich Fleisch und Fett ansetzte. Als er es eines Nachts wagte, die Tücher von seinem Gesicht zu nehmen, bemerkte er, daß es menschliche Züge angenommen hatte. So sah er also aus, ach ja.
Große schwarze Augen, von sanften Lidern überschattet. Ein hübscher, lächelnder Mund. Eine zweifellos hübsch gestaltete Nase. Und die Augenbrauen - die gefielen ihm am besten. Sie waren weder zerzaust noch buschig, sondern saßen tiefschwarz über seinen Augen und verliehen seinem ganzen Aussehen jenen halbverschleierten und dennoch offenen Blick, der bei anderen nur Sympathie erwecken konnte. Ja, es war ein hübsches junges Männergesicht.
Seitdem zeigte er sich unverhüllt, trug nur noch moderne Hemden und Hosen.
Aber er mußte sich im Schatten halten. Er war einfach zu blaß.
Wenn man ihn fragte, gab er seinen Namen mit Khayman an, aber warum er einst so hieß, wußte er nicht mehr. Einmal hatte er auch auf den Namen Benjamin gehört. Auch noch auf andere Namen … Aber wann? Khayman. Das war der erste und der geheime Name, derjenige, den er niemals vergessen hatte. Jederzeit war er in der Lage, zwei kleine Bilder zu malen, die Khayman darstellten, aber woher diese Symbole kamen, wußte er einfach nicht mehr.
Das größte Rätsel war ihm seine Körperkraft. Er konnte mühelos durch
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