Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
sagte ich. »So herrliches Haar, und jetzt wird es für alle Zeit herrlich sein.«
Wieder versuchte ich, mich aufzurichten, aber es war anscheinend unmöglich. Sie schoben einen Notfall in aller Eile durch den Korridor, zwei Schwestern zu beiden Seiten; jemand stieß gegen meine Liege, und Vibrationen gingen durch mich hindurch. Dann war es still, und die Zeiger der großen Uhr rückten mit einem kleinen Ruck weiter. Der Mann neben mir stöhnte und bewegte den Kopf. Seine Augen waren unter einem großen weißen Verband verborgen. Wie nackt sein Mund aussah.
»Wir müssen diese Leute isolieren«, sagte eine Stimme.
»Kommen Sie, ich nehme Sie mit nach Hause.«
Und Mojo? Was war aus Mojo geworden? Wenn sie ihn nun abgeholt hatten? In diesem Jahrhundert sperrte man Hunde ins Gefängnis, bloß weil sie Hunde waren.
Ich mußte es ihr erklären. Sie hob mich hoch oder versuchte es wenigstens und schob mir dazu ihren Arm um die Schultern. Mojo bellte im Stadthaus. War er eingesperrt?
Louis war traurig. »Da draußen in der Stadt wütet eine Seuche.«
»Aber die kann Ihnen nichts anhaben, David«, sagte ich.
»Da haben Sie recht«, sagte er. »Aber es gibt andere Dinge.. .«
Claudia lachte. »Sie ist verliebt in dich, weißt du.«
»Du wärst an der Seuche gestorben«, sagte ich.
»Vielleicht war es nicht meine Zeit.«
»Glaubst du das-? Daß jeder von uns seine Zeit hat?«
»Nein, ehrlich gesagt, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Vielleicht war es nur leichter, dir die Schuld an allem zugeben. Eigentlich wußte ich nie den Unterschied zwischen Recht und Unrecht, weißt du.«
»Du hattest Zeit zum Lernen«, sagte ich.
»Du auch. Sehr viel mehr Zeit, als ich je hatte.«
»Gott sei Dank, daß Sie mich mitnehmen«, flüsterte ich. Ich stand auf den Beinen.
»Ich habe solche Angst«, sagte ich. »Einfache, gewöhnliche Angst.«
»Eine Bürde weniger für das Hospital«, sagte Claudia mit perlendem Lachen, ihre kleinen Füße wippten über dem Rand des Stuhls. Sie hatte wieder das feine Kleid an mit der Stickerei. Das jedenfalls war eine Verbesserung.
»Gretchen, die Schöne«, sagte ich. »Es entfacht eine Flamme in Ihren Wangen, wenn ich das sage.«
Sie lächelte, als sie meinen linken Arm über ihre Schulter zog und ihren rechten Arm fest um meine Taille schlang. »Ich werde Sie pflegen«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Es ist nicht sehr weit.«
Ich stand neben ihrem kleinen Auto im bitterkalten Wind, hielt dieses stinkende Organ in den Fingern und betrachtete den gelben Bogen meiner Pisse; Dampf stieg auf, wo er auf den schmelzenden Schnee traf.
»Gütiger Gott!« sagte ich. »Das fühlt sich beinahe gut an! Was sind Menschen, daß sie an so scheußlichen Dingen Vergnügen finden können!«
Vierzehn
I rgendwann begann ich, abwechselnd einzudösen und wieder wach zu werden; mir war bewußt, daß wir in einem kleinen Auto saßen und daß Mojo bei uns war; er hechelte heftig an meinem Ohr, und wir fuhren durch bewaldete, schneebedeckte Hügel. Ich war in eine Decke gehüllt, und mir war elend übel von den Bewegungen des Wagens. Außerdem fror ich. Ich erinnerte mich kaum, wie wir in das Stadthaus zurückgekehrt waren und Mojo gefunden hatten, der dort so geduldig gewartet hatte. Ich spürte unbestimmt, daß ich in diesem benzingetriebenen Fahrzeug sterben könnte, wenn ein anderes damit zusammenstieße. Irgendwie erschien es mir schmerzhaft real, so real wie der Schmerz in meiner Brust. Und der Körperdieb hatte mich überlistet.
Gretchens Augen waren ruhig auf die gewundene Straße vor uns gerichtet. Das gesprenkelte Sonnenlicht bildete rings um ihren Kopf herum eine weiche, liebliche Aureole aus all den feinen Härchen, die sich aus dem dicken geflochtenen Zopf gelöst hatten, und aus den glatten, hübschen Wellen, die von ihren Schläfen nach hinten wuchsen. Eine Nonne, eine schöne Nonne, dachte ich, und meine Augen schlössen und öffneten sich wie aus eigenem Antrieb.
Aber wieso ist diese Nonne so gut zu mir? Weil sie eine Nonne ist?
Es war still ringsumher. Zwischen den Bäumen standen Häuser auf Anhöhen und in kleinen Tälern, sehr dicht beieinander. Ein reicher Vorort vielleicht, mit diesen Holzvillen im kleinen Maßstab, wie sie begüterte Sterbliche manchmal den wirklich palastartigen Behausungen des vergangenen Jahrhunderts vorziehen.
Endlich bogen wir in die Zufahrt neben einem dieser Häuser ein; wir fuhren durch eine Gruppe kahler Bäume hindurch und hielten neben einem kleinen,
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