Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
erzählte sie, an Orten, die so schmutzig und schlecht ausgerüstet waren, daß einem selbst das überfüllte Washingtoner Krankenhaus im Vergleich dazu traumhaft erschien.
Ich sah, wie ihre Blicke über meinen Körper wanderten, und dann sah ich die Röte in ihren Wangen und die Art, wie sie mich anschaute, überwältigt von Scham und Verwirrung. Wie seltsam unschuldig sie war.
Ich lächelte bei mir, aber ich fürchtete, ihre eigenen fleischlichen Empfindungen könnten sie verletzen. Was für ein grausamer Schmerz auf unserer beider Kosten, daß sie diesen Körper verlockend fand. Aber das tat sie zweifellos, und das brachte mein Blut in Bewegung, mein menschliches Blut, trotz Fieber und Erschöpfung. Ah, dieser Körper kämpfte immer um irgend etwas.
Ich konnte kaum stehen, als sie mich von oben bis unten abtrocknete, aber ich war entschlossen, nicht umzufallen. Ich küßte sie auf den Scheitel, und sie schaute zu mir auf, langsam und unsicher, fasziniert und ratlos. Ich wollte sie noch einmal küssen, aber ich hatte nicht die Kraft. Sehr sorgfältig trocknete sie mir das Haar, sehr sanft das Gesicht. Seit langem hatte mich niemand mehr so berührt. Ich sagte ihr, daß ich sie um dieser reinen Güte willen liebte.
»Ich hasse diesen Körper so sehr; es ist die Hölle, darin zu sein.«
»So schlimm ist es?« fragte sie. »Ein Mensch zu sein?«
»Sie brauchen mich nicht aufzumuntern«, sagte ich. »Ich weiß, daß Sie nicht glauben, was ich Ihnen erzählt habe.«
»Ah, aber unsere Fantasien sind wie unsere Träume«, sagte sie mit einem ernstharten kleinen Stirnrunzeln. »Sie bedeuten etwas.«
Plötzlich sah ich mein Spiegelbild im Medizinschrank - einen großen, karamelhäutigen Mann mit dichtem braunen Haar, und neben ihm eine großgliedrige Frau mit weicher Haut. Der Schock war so groß, daß mir das Herz stehenblieb.
»Lieber Gott, hilf mir«, flüsterte ich. »Ich will meinen Körper zurückhaben.« Am liebsten hätte ich geweint.
Sie drängte mich zum Bett, damit ich mich auf die Kissen legte. Die Wärme des Zimmers fühlte sich gut an. Sie fing an, mich zu rasieren. Gott sei Dank! Das Gefühl der Haare in meinem Gesicht war mir zuwider. Ich sagte ihr, ich sei glattrasiert gewesen wie alle modebewußten Männer, als ich gestorben sei, und wenn wir erst Vampire wären, blieben wir für alle Zeit unverändert. Wir würden immer bleicher, das stimme, und immer stärker, und unsere Gesichter würden glatter. Aber unser Haar bliebe immer gleich lang, und unsere Fingernägel und der Bart ebenfalls.
»War diese Umwandlung schmerzhaft?« wollte sie wissen.
»Ja, weil ich mich dagegen gewehrt habe. Ich wollte es nicht. Im Grunde wußte ich gar nicht, was da mit mir geschah. Es war, als habe mich ein Ungeheuer aus mittelalterlicher Vergangenheit gefangen und schleife mich hinaus aus der zivilisierten Welt. Sie müssen bedenken, daß Paris in jenen Jahren ein wunderbar zivilisierter Ort war. Oh, Sie würden es als unbeschreiblich barbarisch empfinden, wenn man Sie jetzt stehenden Fußes dorthin versetzen wollte, aber für einen Landedelmann aus einer dreckigen Burg war es sehr aufregend mit all seinen Theatern, mit der Oper und den Bällen bei Hofe. Das können Sie sich nicht vorstellen. Und dann diese Tragödie, dieser Dämon, der aus dem Dunkeln kommt und mich in seinen Turm entrührt. Aber der Vorgang selbst, das Geschenk der Finsternis? Das ist nicht schmerzhaft, es ist ekstatisch. Und dann werden Ihnen die Augen geöffnet, und alles Menschliche erscheint Ihnen auf eine Weise schön, wie Sie es vorher nicht kannten.«
Ich zog das saubere Unterhemd an, das sie mir gab, und sie deckte mich zu bis ans Kinn. Ich hatte das Gefühl zu schweben. Ja, es war eines der angenehmsten Gefühle, die ich empfunden hatte, seit ich sterblich geworden war- ein Gefühl wie Trunkenheit. Sie fühlte mir den Puls und die Stirn. Ich sah die Angst in ihr, aber ich wollte nicht daran glauben.
Ich erklärte ihr, der eigentliche Schmerz für mich als böses Wesen bestehe darin, daß ich das Gute verstände und respektierte. Ich sei nie gewissenlos gewesen. Aber mein Leben lang - schon als sterblicher Junge - sei ich immer genötigt gewesen, gegen mein Gewissen zu handeln, wenn ich irgend etwas Intensives oder Wertvolles hätte erleben wollen.
»Aber wie denn? Was meinen Sie?« fragte sie.
Ich erzählte ihr, daß ich als Junge mit einer Schauspielertruppe weggelaufen sei und damit offenkundig die Sünde des Ungehorsams begangen
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