Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
zurück zu den funkelnden Lichtern der neuen Hotels, zum Aufblitzen der Scheinwerfer.
Ein einsamer Sterblicher stand dort hinten auf dem Gehweg und schaute zu mir herüber, aber vielleicht bemerkte er meine Anwesenheit gar nicht - eine winzige Gestalt am Rande des großen Meeres. Vielleicht schaute er nur auf das Meer, wie ich es getan hatte, als wäre das Ufer hier wundertätig, als könnte das Wasser unsere Seelen reinwaschen.
Einst war die Welt nichts als Meer, und es regnete hundert Millionen Jahre lang! Aber jetzt wimmelt der Kosmos von Ungeheuern.
Er war immer noch da, der einsame, starr herüberblickende Sterbliche. Und nach und nach erkannte ich, daß er mir über den leeren, weiten Strand hinweg und durch die feine Dunkelheit eindringlich in die Augen schaute. Ja, er schaute mich an.
Ich dachte kaum darüber nach, schaute ihn nur an, weil ich mir nicht die Mühe machte, mich abzuwenden. Und dann überkam mich ein seltsames Gefühl - eines, das ich noch nie zuvor empfunden hatte.
Es fing mit einem leichten Schwindelgefühl an, und dann folgte ein sanft kribbelndes Vibrieren, das erst meinen Körper, dann meine Arme und Beine durchströmte. Es war, als würden meine Gliedmaßen enger, schmaler, als drückten sie die Substanz in ihrem Innern stetig zusammen. Ja, dieses Gefühl war so ausgeprägt, daß es fast schien, als könnte ich aus mir hinausgequetscht werden. Ich nahm es voller Staunen wahr; es hatte etwas unbestimmt Köstliches, zumal für ein Wesen, das so hart und kalt und unempfindlich für alles Empfinden ist wie ich. Es war überwältigend, ganz wie es überwältigend ist, Blut zu trinken, auch wenn es nichts derart Animalisches hatte. Und kaum hatte ich es analysiert, erkannte ich auch schon, daß es vergangen war.
Mich schauderte. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Immer noch starrte ich zu dem Sterblichen in der Ferne hinüber - die arme Seele, die mich anschaute, ohne zu ahnen, wer oder was ich war.
Ein Lächeln lag auf seinem jungen Gesicht, spröde und von irrem Staunen erfüllt. Und nach und nach erkannte ich, daß ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Zu meiner weiteren Verblüffung entdeckte ich jetzt in seinem Blick auch ebenfalls den eindeutigen Ausdruck des Wiedererkennens und eine seltsame Erwartung. Und plötzlich hob er die rechte Hand und winkte.
Verwirrend.
Aber ich kannte diesen Sterblichen. Nein, es war eher zutreffend, zu sagen, daß ich ihn schon mehr als einmal gesehen hatte - und dann kehrten die paar handfesten Erinnerungen mit voller Wucht zurück.
In Venedig, irgendwo am Rande der Piazza San Marco, und dann Monate später in Hongkong in der Nähe des Night Market - und beide Male hatte ich besondere Notiz von ihm genommen, weil er besondere Notiz von mir genommen hatte. Ja, dort stand dieselbe hochgewachsene, kräftig gebaute Gestalt, und es war dasselbe dichte, wellige braune Haar.
Unmöglich. Oder meine ich, unwahrscheinlich? Denn da stand er.
Wieder machte er diese knappe grüßende Geste, und dann lief er eilig und eigentlich sehr unbeholfen auf mich zu, näher und näher, mit seltsamen, plumpen Schritten. Ich beobachtete ihn in kaltem, unerbittlichem Staunen.
Ich versuchte seine Gedanken zu lesen. Nichts. Fest verschlossen. Nur sein grinsendes Gesicht, das immer klarer erkennbar wurde, je näher er dem Leuchtglanz des Meeres kam. Die Witterung seiner Angst drang mir in die Nase, vermischt mit dem Geruch seines Blutes. Ja, er hatte entsetzliche Angst, und zugleich empfand er machtvolle Erregung. Höchst einladend sah er plötzlich aus - noch ein Opfer, das sich praktisch in meine Arme stürzte.
Wie seine großen braunen Augen glitzerten. Und was für glänzende Zähne er hatte.
Etwa einen Schritt vor mir blieb er stehen; sein Herz pochte, und erhielt einen dicken, zerknüllten Umschlag in der feuchten, zitternden Hand.
Ich starrte ihn weiter an und ließ nichts erkennen - weder verletzten Stolz noch Respekt vor seiner erstaunlichen Leistung: daß er mich hier hatte finden können, daß er es gewagt hatte. Ich war gerade hungrig genug, um ihn aufzunehmen und wieder zu trinken, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Ich überlegte nicht mehr, als ich ihn jetzt anschaute. Ich sah nur Blut.
Und als wüßte er es, ja, als spürte er es genau, erstarrte er und funkelte mich einen Augenblick lang wild an. Dann warf er mir den dicken Umschlag vor die Füße und taumelte in panischem Tanz rückwärts durch den lockeren Sand. Es sah aus,
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