Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
als wollten seine Knie unter ihm einknicken. Fast wäre er gefallen, als er sich umdrehte und die Flucht ergriff.
Der Durst ließ ein wenig nach. Vielleicht überlegte ich nicht, aber ich zögerte doch, und das schien nicht völlig gedankenfrei abzugehen. Wer war dieser beherzte junge Hund?
Noch einmal versuchte ich, in seine Gedanken einzudringen. Nichts. Überaus seltsam. Aber es gibt Sterbliche, die sich auf ganz natürliche Weise verhüllen, auch wenn ihnen nicht im mindesten bewußt ist, daß jemand anders versuchen könnte, in ihrem Hirn herumzuschnüffeln.
Er rannte und rannte, verzweifelt und ungelenk, und verschwand in der Dunkelheit einer Seitenstraße, wo er sich immer weiter von mir entfernte.
Augenblicke vergingen.
Jetzt nahm ich seine Witterung überhaupt nicht mehr wahr - von dem Umschlag einmal abgesehen, der noch da lag, wo er ihn hingeworfen hatte.
Was um alles in der Welt konnte das bedeuten? Er hatte genau gewußt, was ich war, kein Zweifel. Venedig und Hongkong waren keine Zufälle gewesen. Zumindest seine plötzliche Angst hatte das ganz deutlich gemacht. Aber insgesamt war er doch mutig, und ich mußte darüber lächeln. Welch eine Vorstellung, eine Kreatur wie mich zu verfolgen.
War er irgendein irrsinniger Verehrer, der an die Tempelpforte pochen wollte, weil er hoffte, ich würde ihm aus schlichtem Mitleid oder zum Lohn für seine Tollkühnheit das Blut der Finsternis geben? Das machte mich plötzlich wütend und verbittert, und dann wieder war es mir einfach egal.
Ich hob den Umschlag auf und sah, daß er unbeschriftet und unverschlossen war. Darin fand ich ausgerechnet eine gedruckte Kurzgeschichte, die anscheinend aus einem Taschenbuch herausgeschnitten worden war.
Es war ein dicker Stoß kleinformatiger Billigpapierseiten, in der oberen linken Ecke zusammengeheftet. Nirgends eine persönliche Mitteilung. Der Autor der Geschichte war ein liebenswertes Geschöpf, das ich gut kannte; er hieß H. P. Lovecraft und war Verfasser von übernatürlicher und makabrer Literatur. Ja, ich kannte auch die Geschichte und würde auch den Titel nie vergessen: »Das Ding auf der Schwelle«. Ich hatte darüber lachen müssen.
»Das Ding auf der Schwelle«. Ich lächelte wieder. Ja, ich erinnerte mich an die Geschichte; sie war raffiniert gewesen und hatte Spaß gemacht.
Aber weshalb sollte mir dieser merkwürdige Sterbliche eine solche Geschichte geben? Das war doch lächerlich. Und plötzlich war ich wieder zornig, oder doch so zornig, wie meine Trauer es mich sein ließ.
Ich stopfte mir das Päckchen geistesabwesend in die Tasche und dachte nach. Ja, der Kerl war wirklich verschwunden. Ich konnte nicht einmal sein Bild bei irgendeinem Menschen in der Umgebung entdecken.
Oh, wenn er nur in irgendeiner anderen Nacht gekommen wäre, um mich in Versuchung zu rühren, in einer Nacht, da meine Seele nicht krank und müde gewesen wäre und es mich wenigstens ein bißchen interessiert hätte - genug jedenfalls, um herausfinden zu wollen, was dahintersteckte.
Aber schon war mir, als seien Äonen vergangen, seit er gekommen und wieder verschwunden war. Die Nacht war leer bis auf das mahlende Tosen der Großstadt und das trübe Krachen des Meeres. Selbst die Wolken waren dünner geworden und dann verschwunden. Der Himmel erschien endlos und quälend still.
Ich schaute hinauf zu den harten, hellen Sternen und ließ mich von dem leisen Rauschen der Brandung in Stille hüllen. Und ich warf einen letzten trauervollen Blick auf die Lichter von Miami, dieser Stadt, die ich so sehr liebte.
Dann stieg ich auf, einfach wie ein Gedanke und so schnell, daß kein Sterblicheres hätte sehen können, diese Gestalt, die höherund höher durch den ohrenbetäubenden Wind emporschwebte, bis die große, weitläufige Stadt nur noch eine entlegene Galaxie war, die allmählich in der Ferne verschwand.
So kalt war er, dieser hohe Wind, der keine Jahreszeiten kennt. Er verschluckte das Blut in mir, als habe es seine süße Wärme nie gegeben, und bald waren mein Gesicht und meine Hände von einer Hülle aus Kälte bedeckt, als sei ich starrgefroren, und diese Hülle schob sich schließlich unter meine vergänglichen Kleider und überzog meine ganze Haut.
Aber sie verursachte keine Schmerzen. Oder, sagen wir, sie verursachte nicht genug Schmerzen.
Eher ließ sie einfach das Behagen austrocknen. Sie war nur noch öde, trostlos, die Abwesenheit dessen, was das Dasein lohnend macht: die lodernde Wärme von Feuer und
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