Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
weitem übersteigt.
Ihre Bibliothek allein ist in jeder irdischen Währung ein königliches Vermögen wert. Sie enthält Manuskripte in allen Sprachen, ja, sogar einige aus der berühmten alten Bibliothek von Alexandria, die vor Jahrhunderten niederbrannte, und andere aus den Bibliotheken der gemarterten Katharer, deren Kultur es nicht mehr gibt. Es gibt Texte aus dem alten Ägypten, für die mancher Archäologe fröhlich einen Mord begehen würde, wenn er nur einen Blick darauf werfen dürfte. Es gibt Texte von übernatürlichen Wesen mehrerer bekannter Arten, unter anderem von Vampiren. Es gibt Briefe und Dokumente in diesen Archiven, die von mir verfaßt wurden.
Keiner dieser Schätze interessiert mich. Sie haben mich noch nie interessiert. Oh, in Augenblicken größerer Heiterkeit habe ich wohl schon mit dem Gedanken gespielt, in die Gewölbe einzubrechen und ein paar alte Reliquien zu beschlagnahmen, die einmal Unsterblichen gehört haben, die ich liebte. Ich weiß, daß diese Gelehrten Gegenstände eingesammelt haben, die ich selbst einmal zurückließ - den Inhalt einiger Räume in Paris kurz vor dem Ende des letzten Jahrhunderts etwa, die Bücher und die Möbel meines alten Hauses in den baumbeschatteten Straßen des Garden District in New Orleans, unter dem ich jahrzehntelang schlummerte, ohne die zur Kenntnis zu nehmen, die über mir auf dem verrottenden Dielenboden umhergingen. Gott weiß, was sie sonst noch alles vor dem nagenden Zahn der Zeit errettet haben.
Aber mir lag nichts mehr an diesen Dingen. Mochten sie nur behalten, was sie da geborgen hatten.
Woran mir lag, war David, der Generalobere, der seit jener längst vergangenen Nacht, da ich in unhöflicher und impulsiver Weise in seinen Privatgemächern im vierten Stock zum Fenster hereinkam, mein Freund war.
Wie tapfer und gefaßt er damals gewesen war. Und wie gern hatte ich ihn angeschaut, diesen hochgewachsenen Mann mit tief zerfurchtem Gesicht und eisengrauem Haar. Damals fragte ich mich, ob ein junger Mann je solche Schönheit besitzen könnte. Aber daß er mich kannte, daß er wußte, was ich war - das war der größte Zauber gewesen, den er auf mich ausübte.
Wie wär’s, wenn ich Sie zu einem von uns machte? leb könnte es, das wissen Sie…
Er war in seiner Überzeugung niemals wankend geworden. »Nicht einmal auf dem Totenbett würde ich es annehmen«, hatte er gesagt. Aber meine bloße Anwesenheit hatte ihn fasziniert; das konnte er nicht verbergen, obgleich er seit jenem ersten Mal seine Gedanken recht gut vor mir verborgen hatte.
Tatsächlich war sein Geist zu einer Stahlkassette geworden, für die ich keinen Schlüssel hatte. Und mir war nichts weiter geblieben als die strahlenden, zärtlichen Ausdrucksformen seines Gesichts und eine sanfte, kultivierte Stimme, die den Teufel dazu hätte überreden können, sich gut zu benehmen.
Als ich jetzt in den frühen Morgenstunden, mitten im Schnee des englischen Winters, das Mutterhaus erreichte, begab ich mich gleich zu Davids vertrauten Fenstern, doch seine Zimmer fand ich leer und dunkel.
Ich dachte an unsere letzte Begegnung. Konnte es sein, daß er wieder nach Amsterdam gereist war?
Die letzte Reise war unverhofft zustande gekommen - das jedenfalls hatte ich, als ich gekommen war, ihn zu suchen, noch herausfinden können, bevor die raffinierte Truppe seiner Medien meine telepathische Schnüffelei entdeckt hatte - was ihnen immer wieder mit bemerkenswerter Effizienz gelingt - und mich schleunigst ausgesperrt hatte.
Anscheinend hatte eine Aufgabe von größter Wichtigkeit Davids Anwesenheit in Holland erforderlich gemacht.
Das holländische Mutterhaus war älter als das bei London, und es gab Gewölbe in seinen Kellern, zu denen nur der Generalobere den Schlüssel hatte. David mußte dort ein Porträt von Rembrandt ausfindig machen, einen der bedeutsamsten Schätze im Besitz des Ordens, es kopieren lassen und die Kopie an seinen guten Freund Aaron Lightner schicken, der sie im Zusammenhang mit wichtigen Paranormalen Ermittlungen in den Vereinigten Staaten benötigte.
Ich war David nach Amsterdam gefolgt und hatte ihm dort nachspioniert; ich hatte mir vorgenommen, ihn nicht zu stören, wie ich es schon so viele Male getan hatte.
Lassen Sie mich die Geschichte dieser Episode jetzt erzählen.
In sicherer Entfernung war ich ihm gefolgt, als er zügig durch den späten Abend gegangen war, und hatte meine Gedanken ebenso geschickt maskiert, wie er die seinen stets maskierte. Was
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