Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Hoffnungen verdorren. Das Elend eines einzigen Landes war mehr, als der Geist ertragen konnte, wenn man es auch nur in groben Einzelheiten beschrieb.
Aber selbst wenn ich meinen ganzen Besitz auf dieses Unternehmen verwandte, was würde ich damit in letzter Analyse bewirken?
Wie konnte ich wissen, ob die moderne Medizin in einem Urwalddorf besser war als die althergebrachten Methoden? Wie konnte ich wissen, ob die Ausbildung, die ein Urwaldkind bekam, sein Glück bedeutete? Wie konnte ich wissen, ob irgend etwas davon den Verlust meiner selbst wert war? Und wie konnte ich mich dazu bringen, mich dafür zu interessieren, ob es das wert war oder nicht! Das war das Grauenhafte.
Es kümmerte mich nicht. Ich konnte um jede individuelle Seele weinen, die leiden mußte, ja, aber mein Leben für die Millionen Namenlosen der Welt zu opfern, das interessierte mich nicht! Ja, es erfüllte mich mit Grausen, mit einem dunklen, furchtbaren Grausen. Es war traurig über alle Traurigkeit hinaus. Es schien mir überhaupt kein Leben zu sein. Es war das genaue Gegenteil von Transzendenz. Ich schüttelte den Kopf. Mit leiser, stammelnder Stimme erklärte ich ihr, weshalb diese Vision mich so erschreckte.
»Vor Jahrhunderten, als ich zum erstenmal auf der kleinen Boulevardbühne in Paris stand - als ich die glücklichen Gesichter sah und den Applaus hörte -, da war mir, als hätten mein Leib und meine Seele ihre Bestimmung gefunden; mir war, als sei jede Verheißung meiner Geburt und meiner Kindheit endlich dabei, sich zu erfüllen.
Oh, es gab andere Schauspieler, schlechtere und bessere, andere Sänger, andere Clowns. Es hat seitdem Millionen gegeben, und Millionen werden noch kommen.
Aber jeder von uns leuchtet mit seiner eigenen, unnachahmlichen Kraft; jeder von uns erwacht in seinem eigenen, einzigartigen und atemberaubenden Augenblick zum Leben; jeder von uns hat seine Chance, die anderen im Herzen des Betrachters für alle Zeit zu besiegen - und das ist die einzige Art von Leistung, die ich wirklich verstehen kann: eine Leistung, bei der das Ich - dieses Ich, wenn du willst - ganz und gar vollständig und triumphal ist. Ja, ich hätte ein Heiliger sein können, da hast du recht, aber dazu hätte ich einen religiösen Orden gründen oder eine Armee in die Schlacht führen müssen; ich hätte Wunder in einem solchen Maßstab wirken müssen, daß die Welt vor mir auf die Knie gefallen wäre. Ich muß Wagnisse eingehen, selbst wenn ich im Irrtum bin -völlig im Irrtum. Gretchen, Gott hat mir eine individuelle Seele gegeben, und die kann ich nicht begraben.«
Erstaunt sah ich, daß sie mich immer noch anlächelte, sanft und ohne Zweifel, und ihr Gesicht zeigte ruhiges Staunen.
»Lieber in der Hölle herrschen«, sagte sie vorsichtig, »als im Himmel dienen?«
»O nein. Ich würde den Himmel auf Erden schaffen, wenn ich könnte. Aber ich muß meine Stimme erheben; ich muß strahlen, und ich muß nach ebender Ekstase streben, die du verleugnet hast - der intensiven Erfahrung, vor der du geflüchtet bist!
Das ist für mich Transzendenz! Als ich Claudia schuf, so ungeschickt und falsch es war - jawohl, das war Transzendenz. Als ich Gabrielle schuf, so bösartig das auch erscheinen mochte - jawohl, das war Transzendenz. Es war ein einzigartiger, machtvoller und grauenerregender Akt, der mich meiner ganzen unvergleichlichen Kraft und meines Wagemuts beraubte. Sie sollen nicht sterben, sagte ich - ja, vielleicht mit denselben Worten, mit denen du über die Dorfkinder sprichst. Aber ich sprach diese Worte, um sie in meine unnatürliche Welt zu holen. Mein Ziel war nicht bloß, sie zu retten, sondern sie zu dem zu machen, was ich war - ein einzigartiges, schreckliches Wesen. Mein Ziel war es, ebendie Individualität auf sie zu übertragen, die ich so sehr genoß. Wir werden leben, selbst in diesem Zustand, da man uns als lebende Tote bezeichnet, wir werden lieben, wir werden fühlen, wir werden denen trotzen, die über uns urteilen und uns vernichten möchten. Das war meine Transzendenz. Und Selbstaufopferung und Erlösung hatten nichts damit zu tun.«
Oh, wie frustrierend es war, daß ich es ihr nicht vermitteln konnte, daß ich sie nicht dazu bringen konnte, es im buchstäblichen Sinn zu glauben. »Verstehst du, ich habe alles, was mir zugestoßen ist, überlebt, weil ich bin, wer ich bin. Meine Stärke, mein Wille, meine Weigerung aufzugeben - das sind die einzigen Komponenten meines Herzens und meiner Seele, die ich wirklich
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