Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
glauben möchtest. Lestat, hör mir zu. Wenn alles wahr ist, was du mir erzählt hast, ist es dann im Lichte dieser Wahrheit nicht offensichtlich, daß es dir bestimmt war, mir zu begegnen?«
»Wieso?«
»Komm her; setz dich zu mir und sprich mit mir.«
Ich weiß nicht, warum ich zögerte, warum ich Angst hatte. Schließlich kehrte ich zurück zur Decke und setzte mich ihr mit gekreuzten Beinen gegenüber. Ich lehnte mich an die Seitenwand des Bücherschranks.
»Siehst du es denn nicht?« fragte sie. »Ich vertrete einen entgegengesetzten Weg, einen Weg, den du noch nie in Betracht gezogen hast, und einen, der dich zu dem Trost rühren könnte, den du suchst.«
»Gretchen, du glaubst doch nicht einen Augenblick lang, daß ich dir die Wahrheit über mich gesagt habe. Das kannst du nicht. Das erwarte ich auch nicht.«
»Aber ich glaube dir! Jedes Wort. Und die buchstäbliche Wahrheit ist unwichtig. Du suchst etwas, das die Heiligen gesucht haben, als sie ihrem normalen Leben entsagten und sich blindlings in den Dienst Christi stellten. Und es macht nichts, wenn du nicht an Christus glaubst. Das ist unwichtig. Wichtig ist, daß du dich in dem Dasein, das du bisher geführt hast, elend fühlst, elend bis an den Rand der Raserei, und daß mein Weg dir eine Alternative bieten würde.«
»Soll das heißen, das hier wäre etwas für mich?« fragte ich.
» Natürlich soll es das heißen. Siehst du nicht, was all dem zugrunde liegt? Du kommst herunter in diesen Körper; du fällst mir in die Hände; du gibst mir den Augenblick der Liebe, den ich brauche. Aber was habe ich dir gegeben? Was ist meine Bedeutung für dich?«
Sie hob die Hand, als ich etwas sagen wollte.
»Nein, fang nicht wieder von dem großen Plan an. Frag nicht, ob es im buchstäblichen Sinn einen Gott gibt. Denke nach über alles, was ich gesagt habe. Ich habe es für mich selbst gesagt, aber auch für dich. Wie viele Menschenleben hast du in deinem Dasein in der anderen Welt genommen? Wie viele Menschenleben habe ich in der Mission gerettet - buchstäblich gerettet?«
Ich war im Begriff, diese Möglichkeit restlos zu bestreiten, aber plötzlich zog ich es vor, zu warten, zu schweigen und nur nachzudenken.
Es überlief mich eiskalt, als mir von neuem der Gedanke kam, daß ich meinen übernatürlichen Körper vielleicht nie wiederbekommen würde, daß ich womöglich mein Leben lang in diesem Fleisch gefangen sein würde. Wenn ich den Körperdieb nicht fangen könnte, wenn ich die anderen nicht dazu bringen könnte, mir zu helfen, dann würde der Tod, den ich angeblich gewollt hatte, tatsächlich irgendwann zu mir kommen. Ich war in die Zeit zurückgefallen.
Und wenn all dem ein Plan zugrunde lag? Wenn es eine Bestimmung gab? Und ich das sterbliche Leben mit Arbeit verbrachte, wie Gretchen es tat, und mein ganzes körperliches und geistiges Leben anderen widmete? Wenn ich einfach mit ihr zu ihrem Vorposten im Dschungel zurückkehrte? Oh, natürlich nicht als ihr Liebhaber.
So etwas war ihr offensichtlich nicht bestimmt. Aber als ihr Assistent, ihr Gehilfe?
Wenn ich nun mein sterbliches Leben in diesen Rahmen der Selbstaufopferung stellte?
Wieder zwang ich mich, still zu bleiben, es zu betrachten.
Natürlich gab es einen zusätzlichen Vorteil, von dem sie nichts wußte - den Reichtum, den ich ihrer Mission und ähnlichen Missionen zukommen lassen konnte.
Und auch wenn dieser Reichtum so gewaltig war, daß manche Menschen ihn nicht mehr hätten berechnen können, so konnte ich es durchaus. In einer großen, gleißenden Vision sah ich seine Grenzen und seine Wirkungen. Ganze Dorfbevölkerungen ernährt und gekleidet, Krankenhäuser mit Medikamenten versorgt, Schulen mit Büchern und Tafeln, Radios und Klavieren ausgestattet. Jawohl, mit Klavieren. Oh, das war eine alte, alte Geschichte. Das war ein alter, alter Traum. Schweigend betrachtete ich das alles. Ich sah, die täglichen Augenblicke meines sterblichen Lebens - meines potentiellen sterblichen Lebens - das ich zusammen mit meinem ganzen Vermögen auf diesen Traum verwandte. Ich sah es, als wäre es Sand, der durch die schmale Mitte einer Sanduhr rieselte.
Ja, in diesem Augenblick, während wir hier in diesem sauberen kleinen Zimmer saßen, verhungerten Menschen in den großen Slums der asiatischen Welt. Sie verhungerten in Afrika. Weltweit gingen sie zugrunde, durch Krankheiten und Katastrophen. Hochwasserfluten spülten ihre Behausungen davon; Trockenheit ließ Nahrungsmittel und
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