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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Worte lag Kälte oder Härte. »Aber ich hatte eine Vision von etwas, das unendlich viel wichtiger war als eine junge Frau auf einer Konzertbühne, die sich vom Klavierhocker erhebt, um einen Strauß Rosen entgegenzunehmen. Es dauerte lange, bis ich ihnen von meinem Gelübde erzählte.«
    »Jahre?«
    Sie nickte. »Und sie verstanden es. Sie sahen das Wunder. Wie hätte es auch anders sein können? Ich sagte ihnen, ich hätte mehr Glück gehabt als irgend jemand sonst, der in dieses Kloster gegangen sei. Ich hätte ein klares Zeichen von Gott empfangen. Er habe alle Konflikte für jeden von uns gelöst.«
    »Das glaubst du.«
    »Ja. Das glaube ich. Aber in gewisser Hinsicht ist es gar nicht so wichtig, ob es stimmt oder nicht. Und wenn jemand das verstehen sollte, dann du.«
    »Wieso?«
    »Weil du von religiösen Wahrheiten und religiösen Ideen sprichst und weil du weißt, daß sie wichtig sind, auch wenn sie nur Metaphern sind. Das habe ich aus deinen Worten herausgehört, sogar als du im Delirium lagst.«
    Ich seufzte. »Willst du denn nie wieder Klavier spielen? Willst du nie einmal ein leeres Auditorium finden, mit einem Flügel auf der Bühne, und dich dann einfach hinsetzen und…«
    »Natürlich möchte ich das. Aber ich kann es nicht tun, und ich werde es nicht tun.« Ihr Lächeln war jetzt wahrhaft schön.
    »Gretchen, in gewisser Weise ist das eine schreckliche Geschichte«, sagte ich.
    »Warum konntest du denn als gut katholisches Mädchen dein musikalisches Talent nicht als eine Gabe Gottes sehen, als Geschenk, das nicht verschleudert werden durfte?«
    »Es war ja von Gott; das wußte ich schon. Aber begreifst du nicht - es war eine Weggabelung: das Klavier zu opfern, das war eine Gelegenheit, die Gott mir gab, Ihm auf ganz besondere Weise zu dienen. Lestat, was konnte die Musik schon bedeuten, verglichen mit dem Akt, Menschen zu helfen, Hunderten von Menschen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich finde, die Musik kann man genauso wichtig finden.« Sie dachte lange nach, bevor sie antwortete. »Ich konnte nicht weitermachen«, sagte sie dann. »Vielleicht habe ich mir die Krise der Erkrankung meiner Mutter zunutze gemacht. Ich weiß es nicht. Ich mußte Krankenschwester werden. Es gab keine andere Möglichkeit für mich. Die schlichte Wahrheit ist: Ich kann nicht leben im Angesicht des Elends auf der Welt. Ich weiß keinerlei Rechtfertigung für Komfort und Vergnügen, wenn andere Menschen leiden. Ich weiß nicht, wie irgend jemand eine vorbringen könnte.«
    »Du glaubst doch sicher nicht, daß du das alles ändern kannst, Gretchen?«
    »Nein, aber ich kann mein Leben damit verbringen, viele, viele einzelne Menschenleben zu verändern. Und darauf kommt es an.«
    Diese Geschichte erregte mich so sehr, daß ich nicht sitzen bleiben konnte. Ich stand auf, streckte die steifen Beine, ging zum Fenster und schaute hinaus auf das verschneite Feld.
    Es wäre leicht gewesen, das alles abzutun, wenn sie eine bedauernswerte oder geistig verkrüppelte Person gewesen wäre, oder eine von schweren Konflikten aus dem Gleichgewicht gebrachte Frau. Aber nichts schien weiter von der Wahrheit entfernt. Für mich war sie so gut wie unergründlich.
    Sie war so fremdartig wie mein sterblicher Freund Nicolas vor vielen, vielen Jahrzehnten - nicht, weil sie ihm ähnlich war, sondern weil sein verächtlicher Zynismus und seine ewige Rebellion eine Verleugnung seines eigenen Ich enthalten hatte, die ich im Grunde nie verstanden hatte. Mein Nicki - er war scheinbar so exzentrisch und exzessiv und zog Befriedigung aus dem, was er tat, doch nur, weil es andere ärgerte.
    Verleugnung des eigenen Ich - das war das Herz des Ganzen.
    Ich drehte mich um. Sie beobachtete mich stumm. Wieder hatte ich das deutliche Gefühl, daß es ihr nicht besonders wichtig war, was ich sagte. Sie brauchte mein Verständnis nicht. In gewisser Weise war sie eine der stärksten Personen, denen ich in meinem ganzen langen Leben begegnet war.
    Kein Wunder, daß sie mich aus dem Krankenhaus mitgenommen hatte; eine andere Krankenschwester hätte eine solche Bürde vielleicht niemals auf sich genommen.
    »Gretchen«, sagte ich, »hast du niemals Angst, daß dein Leben vergeudet sein könnte - daß Krankheit und Leid einfach weitergehen, noch lange nachdem du die Erde verlassen hast, und daß das, was du getan hast, im großen Plan der Dinge ganz ohne Bedeutung ist?«
    »Lestat«, sagte sie, »der große Plan der Dinge, das ist es, was ohne Bedeutung ist.« Ihre

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