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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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für eine hinreißende Erscheinung er war, wie er dort unter den Ulmen entlang der Singel Gracht hin und wieder stehenblieb, um die schmalen alten, drei- oder vierstöckigen Holländerhäuser zu bewundern, ihre hohen Stufengiebel und die hellen Fenster, die, wie es schien, zur Unterhaltung der Passanten nicht mit Gardinen verhängt waren.
    Beinahe sofort spürte ich, daß eine Veränderung in ihm vorging. Er hatte wie immer seinen Spazierstock bei sich, obwohl er ihn offensichtlich noch nicht brauchte, und er ließ ihn auf seine Schulter schnellen, wie er es schon öfter getan hatte. Aber sein Gang hatte etwas Brütendes, eine ausgeprägte Unzufriedenheit; Stunde um Stunde verging, während er umherwanderte, als sei die Zeit völlig ohne Bedeutung.
    Bald war mir sehr klar, daß David in Erinnerungen versunken war; hin und wieder gelang es mir, ein scharfschmeckendes Bild seiner Jugend in den Tropen aufzuschnappen, sogar blitzartige Impressionen eines grünen Dschungels, der ganz anders aussah als diese winterliche Stadt des Nordens, wo es sicher niemals warm war. Den Traum mit dem Tiger hatte ich damals noch nicht geträumt. Ich wußte also nicht, was es bedeutete.
    Es war quälend bruchstückhaft. David verstand sich einfach zu gut darauf, seine Gedanken bei sich zu behalten.
    Aber er ging weiter und immer weiter, manchmal wie ein Getriebener, und ich folgte ihm weiter und immer weiter und empfand seltsamen Trost bei seinem bloßen Anblick ein paar Blocks weiter vor mir.
    Wären die Motorräder nicht gewesen, die ständig an ihm vorbeisausten, er hätte ausgesehen wie ein junger Mann. Aber die Motorräder erschreckten ihn. Er hatte die unverhältnismäßige Angst eines alten Mannes davor, umgefahren und verletzt zu werden. Erbost starrte er den jungen Fahrern nach und versank dann wieder in seinen Gedanken.
    Erst kurz vor dem Morgengrauen kehrte er dann endlich zum Mutterhaus zurück. Und fast immer muß er den größten Teil des Tages verschlafen haben.
    Er war bereits wieder auf seinem Spaziergang, als ich ihn eines Abends einholte, und wieder schien er kein besonderes Ziel zu haben. Im Zickzackkurs wanderte er durch die vielen kleinen kopfsteingepflasterten Straßen von Amsterdam. Anscheinend gefiel es ihm hier genauso gut wie in Venedig, und das zu Recht, denn beide Städte sind dicht bebaut und dunkel und besitzen - all ihren markanten Unterschieden zum Trotz - einen ganz ähnlichen Charme. Daß die eine Stadt katholisch ist, stinkend und von entzückendem Verfall geprägt, die andere protestantisch und daher sehr sauber und effizient, brachte mich hin und wieder zum Lächeln.
    Auch in der folgenden Nacht war er wieder allein unterwegs; er pfiff vor sich hin und legte zügig Meile um Meile zurück, und bald wurde mir klar, daß er das Mutterhaus mied. Ja, er schien überhaupt alles zu meiden, und als einer seiner alten Freunde - auch Engländer und Mitglied des Ordens - ihm in der Nähe einer Buchhandlung in der Leidsestraat zufällig über den Weg lief, ging aus dem Gespräch deutlich hervor, daß David schon seit einer Weile nicht mehr er selbst war.
    Die Briten sind so überaus höflich, wenn es darum geht, solche Dinge zu erörtern und zu diagnostizieren. Aber das Folgende konnte ich aus all der wunderbaren Diplomatie herausfiltern: David vernachlässigte seine Pflichten als Generaloberer. Er verbrachte seine ganze Zeit außerhalb des Mutterhauses. Wenn er in England war, zog er sich immer öfter in das Haus seiner Vorfahren in den Cotswolds zurück. Was war los?
    David tat die verschiedenen Andeutungen allesamt mit einem Achselzucken ab, als nehme sein Interesse an dieser Unterredung zusehends ab. Er machte irgendeine unbestimmte Bemerkung des Inhalts, daß die Talamasca durchaus ein Jahrhundert lang ohne einen Generaloberen bestehen könne, so diszipliniert und traditionsgebunden, wie sie sei, so reich an hingebungsvollen Mitgliedern. Dann verschwand er in der Buchhandlung und stöberte dort ein Weilchen; er kaufte eine englische Paperback-Ausgabe von Goethes Faust. Er aß allein in einem kleinen indonesischen Restaurant, den Faust vor sich aufgestellt, und sein Blick jagte über die Seiten, während er sein würziges Mahl verspeiste.
    Während er mit Messer und Gabel hantierte, ging ich in die Buchhandlung und kaufte mir das gleiche Buch. Was für ein bizarres Werk!
    Ich kann nicht behaupten, daß ich es verstand oder daß ich begriff, weshalb David es las. Tatsächlich erfüllte mich der Gedanke mit

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