Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
laufen lassen. Ich witterte seine Angst wie beim letztenmal. Natürlich wußte er, daß ich ihn gesehen hatte; das war unverkennbar. Ich war seit zwei Stunden da und wartete darauf, daß er mich fand, und ich nehme an, auch das war ihm klar.
Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und kam durch den Nebel über die Brücke, eine auf den ersten Blick beeindruckende Gestalt in einem langen Mantel und mit einem weißen Schal; halb gehend, halb laufend, kam er heran und blieb ein, zwei Schritte vor mir stehen. Ich stützte mich mit dem Ellbogen auf die, Mauer und starrte ihm kalt entgegen. Er hielt mir schon wieder einen kleinen Umschlag entgegen. Ich packte seine Hand.
»Nichts überstürzen, Monsieur de Lioncourt!« flüsterte er in verzweifeltem Ton. Ein britischer Akzent, Upperclass, ganz wie David, und er traf die französischen Silben beinahe perfekt. Dabei verging er fast vor Angst.
»Wer zum Teufel sind Sie?« herrschte ich ihn an.
»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Es wäre töricht von Ihnen, wenn Sie nicht zuhören wollten. Es geht um etwas, daß Sie unbedingt werden haben wollen. Und niemand sonst auf dieser Welt könnte es Ihnen bieten; seien Sie versichert.«
Ich ließ ihn los, und er sprang zurück und wäre beinahe umgefallen; seine Hand fuhr haltsuchend zur Ufermauer. Was war nur mit den Gebärden dieses Mannes? Seine Gestalt wirkte kraftvoll, aber er bewegte sich wie ein dünnes, zögerliches Wesen. Ich kam nicht dahinter.
»Erläutern Sie mir diesen Vorschlag sofort!« sagte ich, und ich hörte, wie sein Herz in der breiten Brust stillstehen wollte.
»Nein«, sagte er, »aber wir werden sehr bald miteinander reden.« Eine so kultivierte, so geschliffene Stimme.
Viel zu vornehm und gepflegt für diese großen, glasigen braunen Augen und das glatte, robuste junge Gesicht. War er irgendein Treibhauspflänzchen, das in der Gesellschaft älterer Menschen zu erstaunlichen Proportionen herangewachsen war, ohne je einen Gleichaltrigen zu sehen?
»Nichts überstürzen!« schrie er nochmals, und dann rannte er los, stolperte, fing sich wieder und zwängte seine große, unbeholfene Gestalt in den kleinen Wagen und fuhr über die gefrorene Schneedecke davon.
Ja, er fuhr so schnell, als er jetzt in St.-Germain verschwand, daß ich dachte, er müsse gleich verunglücken und sich selbst das Leben nehmen.
Mein Blick fiel auf den Umschlag. Wieder so eine verdammte Short story, kein Zweifel. Wütend riß ich das Papier auf; ich war nicht sicher, ob es richtig gewesen war, ihn laufenzulassen, aber ich genoß dieses Spielchen doch auch irgendwie, genoß sogar meine eigene Empörung über seine Cleverneß und sein Talent, mich aufzustöbern.
Es war eine Videokassette mit einem recht neuen Film. Ich hin du war der Titel. Was um alles in der Welt…? Ich drehte die Kassette um und überflog den Werbetext. Eine Komödie.
Ich kehrte zum Hotel zurück. Noch ein Päckchen erwartete mich dort. Noch ein Video. Solo für l hieß es, und auch hier gab der Werbetext auf der Plastikschachtel eine ziemlich genaue Beschreibung des Inhalts.
Ich ging hinauf in meine Suite. Kein Videorecorder! Nicht einmal im Ritz! Ich rief David an, obwohl der Morgen bald dämmern würde.
»Würden Sie nach Paris kommen? Ich werde alles für Sie arrangieren lassen. Wir sehen uns dann zum Abendessen, morgen abend um acht, im Restaurant unten.« Ich rief meinen sterblichen Agenten an und holte ihn aus dem Bett;
ich wies ihn an, für Davids Ticket zu sorgen, für eine Limousine, eine Suite und was er sonst noch brauchen sollte. Es sollte Bargeld für David bereitliegen, Blumen sollten da sein und eisgekühlter Champagner. Dann ging ich aus und machte mich auf die Suche nach einem Platz zum Schlafen.
Aber eine Stunde später - ich stand im dunklen, feuchten Keller eines verlassenen Hauses - fragte ich mich, ob der kleine sterbliche Halunke mich nicht auch jetzt noch sehen konnte, ob er nicht wußte, wo ich bei Tag schlief, und vielleicht herkommen konnte, um die Sonnenstrahlen auf mich zu lenken wie ein billiger Vampirjäger in einem schlechten Film, ohne den geringsten Respekt vor dem Geheimnisvollen.
Ich grub mich tief unten im Keller ein. Kein Sterblicher hätte mich dort, allein auf sich gestellt, finden können. Und wenn es ihm doch gelungen wäre, hätte ich ihn vielleicht sogar im Schlaf erwürgt, ohne es je zu wissen.
»Also, um Himmels willen, was halten Sie davon?« fragte ich David. Das Restaurant war erlesen
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