Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Mitglieder einer Gruppe besinnungslose Gastgeber für die Geister wurden und über lange, nicht erinnerliche Zeiträume hinweg die Attribute einer bestimmten Gottheit übernahmen.
Aber das Schwergewicht lag jetzt ganz und gar auf dem Unsichtbaren - auf der Wahrnehmung innerer Stärke und dem Kampf mit den äußeren Mächten. Der abenteuerbegeisterte junge Mann, der die Wahrheit allein im Physischen gesucht hatte - im Geruch des Tieres, auf dem Pfad des Dschungels, im Knall der Büchse, im Fall der Beute -, war nicht mehr da.
Als David Rio de Janeiro verlassen hatte, war er ein anderer Mensch geworden. Seine Erzählung war später gestrafft und poliert und sicher auch redigiert worden, aber sie enthielt gleichwohl einen großen Teil seines damals geschriebenen Tagebuchs. Es war nicht zu bezweifeln, daß er im konventionellen Sinn am Rande des Wahnsinns gestanden hatte. Wohin er auch schaute, er sah nicht mehr Straßen, Häuser und Menschen, er sah Geister, Götter, unsichtbare Kräfte, die von anderen ausgingen, und seitens der Menschen spirituellen Widerstand gegen all das, in unterschiedlichem Maß, bewußt und unbewußt. Ja, wenn er nicht in den Dschungel des Amazonas gegangen wäre, wenn er sich nicht gezwungen hätte, wieder zum britischen Großwildjäger zu werden, dann wäre er für seine alte Welt vielleicht für immer verloren gewesen.
Monatelang hatte er als hagere, sonnenverbrannte Gestalt in Hemdsärmeln und schmutziger Hose auf der Suche nach immer größeren spirituellen Erfahrungen die Straßen von Rio durchstreift und nicht den geringsten Kontakt mit seinen Landsleuten gepflegt, sosehr sie ihn auch deshalb bedrängen mochten. Und dann hatte er sich in anständiges Khaki gekleidet, seine schweren Gewehre mitgenommen, einen Vorrat an bestem britischen Proviant für einen Campingausflug angelegt und war dann losgezogen, um sich zu erholen, indem er den gefleckten Jaguar erlegte und den Kadaver der Bestie mit seinem eigenen Messer häutete und ausweidete.
Leib und Seele!
Es war eigentlich nicht so unfaßlich, daß er in all den Jahren nicht nach Rio de Janeiro zurückgekehrt war, denn hätte er diese Reise je noch einmal angetreten, dann hätte er vielleicht den Weg von dort nicht mehr zurückgefunden.
Aber offensichtlich war das Leben eines Candomble-Jüngers für ihn nicht genug. Helden suchen Abenteuer, aber das Abenteuer verschluckt sie nicht mit Haut und Haaren.
Wie schärfte es meine Liebe zu ihm, diese Erlebnisse zu kennen, und wie traurig machte mich der Gedanke, daß er sein Leben seitdem in der Talamasca verbracht hatte. Es schien mir seiner nicht würdig zu sein, oder - nein, es war anscheinend nicht das gewesen, was ihn glücklich machte, sosehr er auch darauf beharren mochte, daß er es so wollte. Es schien das Falsche zu sein.
Und natürlich sehnte ich mich um so schmerzlicher nach ihm, je weiter ich meine Kenntnis von ihm vertiefte. Wieder dachte ich an meine dunkle, außergewöhnliche Jugend, in der ich mir Gefährten geschaffen hatte, die mir nie wirklich Gefährten sein konnten - Gabrielle, die mich nicht brauchte, Nicolas, der wahnsinnig geworden war; Louis, der mir nicht verzeihen konnte, daß ich ihn in das Reich der Untoten entführt hatte, obwohl er es selbst so gewollt hatte.
Nur Claudia war eine Ausnahme gewesen, meine furchtlose kleine Claudia, Jagdgefährtin und Mörderin beliebiger Opfer, Vampir par excellence Und ihre verführerische Stärke war es gewesen, was sie am Ende veranlaßt hatte, sich gegen ihren Schöpfer zu wenden. Ja, sie war die einzige, die wirklich gewesen war wie ich. Und das war vielleicht der Grund, weshalb sie mich jetzt heimsuchte.
Sicher gab es da einen Zusammenhang mit meiner Liebe zu David! Und ich hatte ihn bis jetzt nicht gesehen. Wie sehr liebte ich ihn, und wie tief war die Leere gewesen, als Claudia sich gegen mich gewendet hatte und nicht länger meine Gefährtin war.
Diese Manuskripte erhellten mir noch einen weiteren Punkt. David war just der Mann, der das Geschenk der Finsternis zurückwies, und zwar bis zum bitteren Ende. Dieser Mann fürchtete im Grunde gar nichts. Er mochte den Tod nicht, aber er fürchtete ihn auch nicht. Hatte es nie getan.
Aber ich war nicht nach Paris gekommen, nur um diese Erinnerungen zu lesen. Ich hatte noch etwas anderes vor. Ich verließ die selige, zeitlose Isolation meines Hotels und begann - langsam und sichtbar - umherzuwandern.
In der Rue Madeleine erstand ich eine feine Garderobe, unter anderem
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