Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
rechte Hand ruhte halb geschlossen neben seinem Teller.
»Es war ein Anschlag auf mich, nicht wahr? Er hat versucht, mich aus meinem Körper hinauszutreiben! Vielleicht, um selbst hineinzuschlüpfen. Und das ist ihm natürlich nicht gelungen. Aber warum riskiert er, mich mit einem solchen Versuch tödlich zu beleidigen?«
»Hat er das denn getan?« fragte David.
»Nein, er hat mich nur um so neugieriger gemacht. Ungeheuer neugierig.«
»Da haben Sie die Antwort. Ich glaube, er kennt Sie zu gut.«
»Was?« Ich hörte, was er sagte, aber ich konnte nicht antworten. Ich versank in der Erinnerung an die Empfindungen. »Das Gefühl war so stark. Oh, sehen Sie denn nicht, was er da tut? Er behauptet, er kann mit mir tauschen. Er bietet mir diese hübsche, junge, sterbliche Gestalt an.«
»Ja«, sagte David eisig. »Ich glaube, da haben Sie recht.«
»Warum sollte er in diesem Körper auch bleiben?« fuhr ich fort. »Erfühlt sich offenbar nicht wohl darin. Er will tauschen, und er sagt, er kann es! Deshalb geht er das Risiko ein. Er muß ja wissen, daß es kein Problem für mich wäre, ihn umzubringen, ihn zu zerquetschen wie einen kleinen Käfer. Ich mag ihn nicht mal - seine Art, meine ich; der Körper ist ausgezeichnet. Nein, das ist es: Er kann es, David, er weiß, wie es geht.«
»Kommen Sie zu sich! Sie können es nicht ausprobieren.«
»Was? Wieso nicht? Wollen Sie sagen, es geht nicht? In all Ihren Archiven haben Sie keine Aufzeichnungen …? David, ich weiß, daß er es getan hat. Er kann mich nur nicht zwingen. Aber er hat mit einem anderen Sterblichen getauscht; das weiß ich.«
»Lestat, wenn so etwas passiert, nennen wir es Besessenheit. Es ist ein übersinnlicher Unfall! Die Seele eines Toten übernimmt einen lebendigen Körper; ein Geist nimmt ein menschliches Wesen in Besitz; man muß ihn dazu überreden, es wieder freizugeben. Lebende Menschen laufen nicht herum und tun so etwas absichtlich und in gegenseitiger Übereinstimmung. Nein, ich halte es nicht für möglich. Ich glaube nicht, daß wir solche Fälle haben! Ich…« Er brach ab, offensichtlich zweifelnd.
»Sie wissen, daß Sie durchaus solche Fälle haben«, sagte ich. »Sie müssen.«
»Lestat, es ist sehr gefährlich. Viel zu gefährlich für irgendwelche Versuche.«
»Hören Sie, wenn es durch Zufall passieren kann, dann kann es auch mit Absicht herbeigeführt werden. Wenn eine tote Seele es kann, warum dann nicht auch eine lebende? Ich weiß, was es bedeutet, außerhalb meines Körpers zu reisen. Sie wissen es auch. Sie haben es in Brasilien gelernt. Sie haben es auf das detaillierteste beschrieben. Viele, viele Menschen wissen es. Ja, es war ein Bestandteil der uralten Religionen. Es ist nicht unvorstellbar, daß man in einen anderen Körper fahren und ihn festhalten könnte, während die andere Seele sich vergebens bemüht, ihn wieder zurückzuerobern.«
»Was für ein furchtbarer Gedanke!«
Ich beschrieb noch einmal die Empfindungen und wie machtvoll sie gewesen waren. »David, es ist möglich, daß er diesen Körper gestohlen hat!«
»Oh, das ist ja ganz wunderbar.«
Wieder dachte ich an das Gefühl des Zusammenpressens, an das schreckliche und zugleich seltsam angenehme Empfinden, ich würde durch meine Schädeldecke hinausgequetscht. Wie stark es gewesen war! Ja, wenn er mir dieses Gefühl geben konnte, dann war er sicher auch imstande, einen Sterblichen aus sich hinauszutreiben, zumal wenn dieser Sterbliche nicht die leiseste Ahnung hatte, was da vor sich ging.
»Beruhigen Sie sich, Lestat«, sagte David leicht angewidert und legte seine schwere Gabel auf den halbleeren Teller. »Jetzt überlegen Sie doch einmal. Vielleicht ließe sich so ein Tausch für ein paar Minuten bewerkstelligen. Aber sich im neuen Körper verankern, darin bleiben und tagein, tagaus darin funktionieren? Nein. Das würde bedeuten, Sie müßten im Schlaf ebenso funktionieren wie im wachen Zustand. Sie reden da von einer völlig anderen und offensichtlich gefährlichen Sache. Sie können damit nicht experimentieren. Was ist, wenn es funktioniert?«
»Das ist doch der springende Punkt. Wenn es funktioniert, dann kann ich in diesen Körper hinein.« Ich schwieg für einen Augenblick. Ich konnte es kaum aussprechen, aber dann tat ich es. Ich sagte es. »David, ich kann ein sterblicher Mann sein.« Es verschlug mir den Atem. Ein Augenblick des Schweigens verstrich, und wir starrten einander an. Das unbestimmte Grauen in seinem Blick trug nicht dazu
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