Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
es gab da ein Licht, das einem Engel Tränen und verzweifeltes Flehen entlockte, weil er befürchtete, dieses Licht nie mehr sehen zu dürfen.
Das war mir nicht in den Sinn gekommen. Nein. Ich stand völlig unter dem Eindruck, daß Gott mich dort zurückgelassen hatte. Gott hatte mich verlassen.
Ich ging hinaus zu den Leuten; die Siedlung war überfüllt, denn die Bewohner der Nachbardörfer waren alle gekommen, um mich zu sehen. So mußten wir den umzäunten Platz verlassen und uns aufs freie Feld begeben. - Schau dort hinüber, wo das Gelände langsam abfällt; siehst du da hinten die Stelle, an der das Feld breiter wird und der Strom die Richtung ändert…«
»Ja.«
»Dort versammelten wir uns. Und schon bald war klar, daß all diese Leute eine gewisse Erwartung in mich setzten - daß ich eine Ansprache hielt, vielleicht ein Wunder vollbrachte oder daß mir Flügel wuchsen, irgend etwas, aber ich wußte nicht, was. Und Lilia, die klebte an mir wie vorher schon, verführerisch und schön und von unbestimmter Verwunderung erfüllt.
Gemeinsam kletterten wir auf einen Felsbrocken… einen von denen dort, die die Gletscher vor Millionen von Jahren hier zurückgelassen haben. Genau da. Wir stiegen also hinauf, sie setzte sich, doch ich blieb vor diesen Menschen stehen; und dann schaute ich zum Himmel auf und breitete die Arme aus.
Von ganzem Herzen bat ich Gott, mir zu vergeben, mich wieder zu sich zu nehmen, mich - als Krönung meiner Einmischung auf der Erde - barmherzigerweise verschwinden zu lassen, mir meine unsichtbare Engelsgestalt wiederzugeben, damit ich mich zum Himmel erheben könnte. Meinen ganzen Willen setzte ich in diese Vorstellung, bemühte mich nach Kräften, meine ursprüngliche Natur wiederzuerlangen. Aber ohne Erfolg. Der Himmel zeigte mir nur, was auch Sterbliche sehen: sein Blau und die zart zerfaserten weißen Wolken, die mit dem Wind ostwärts zogen, und das kalte Licht der bleichen Mondsichel. Auf meinen Schultern und meinem Kopf brannte schmerzhart die Sonne. Und da dämmerte mir eine gräßliche Erkenntnis: daß ich womöglich in diesem Körper sterben würde! Daß ich meine Unsterblichkeit verwirkt hatte! Gott hatte mich sterblich gemacht und sich von mir abgewandt.
Darüber dachte ich geraume Zeit nach. Schon früher war mir der Verdacht gekommen, doch jetzt, mit menschlicher Hast, war ich überzeugt davon. Ein wilder Zorn wuchs in mir. Ich betrachtete all diese Männer und Frauen. Ich dachte an Gottes Worte, daß ich mit denen gehen möge, die ich mir selbst erwählt hatte, mit den sterblichen Kreaturen, die ich dem Himmel vorgezogen hatte. Und ich traf eine Entscheidung.
Wenn so mein Ende sein sollte, wenn ich in diesem Körper sterben sollte wie jeder andere Mensch auch, wenn mir also nur noch einige Tage, Wochen oder Jahre blieben - solange ich eben mit diesem Körper angesichts der vorhandenen Gefahren hoffen konnte zu überleben -, dann mußte ich das Erhabenste tun, was mir einfiel. Ich mußte Gott etwas Edles darbieten. Wie ein Engel mußte ich handeln, wenn denn Handeln von mir erwartet wurde!
›Mein Herr, ich liebe dich, sagte ich laut. Und zerbrach mir den Kopf, was ich Großartiges vollbringen könnte. Und sofort fiel mir das Naheliegende und ganz und gar Logische ein. Ich würde diese Leute all mein Wissen lehren! Ich würde weniger vom Himmel und den Engeln und Gott erzählen, denn was würde es ihnen nützen? Aber natürlich wollte ich ihnen von Scheol berichten und ihnen raten, sich um einen friedlichen Tod zu bemühen, damit ihre Seelen in Scheol Frieden fanden, denn das war für sie ein erreichbares Ziel. Das war das einzige, was ich in diese Richtung tun wollte, und zunächst nicht so wichtig! Vordringlicher schien mir, sie all das über ihre Welt zu lehren, was durch logische Schlußfolgerungen begreifbar war, was sie aber noch nicht erkannt hatten.
Auf der Stelle begann ich meine Ansprache. Ich führte sie in die Höhlen der Berge und zeigte ihnen dort, wo die Erzadern verliefen, ich sagte ihnen, daß dieses Metall, wenn man es erhitzte, aus dem Gestein herausfloß, daß man es nach dem Abkühlen aufs neue erwärmen könnte, bis es weich genug war, um bearbeitet zu werden, und was man daraus machen konnte.
Zurück am Seeufer, nahm ich die weiche Erde und formte sie zu kleinen Figürchen, um ihnen zu demonstrieren, wie einfach das war. Dann nahm ich einen Stecken und zeichnete Kreise in den Sand, wobei ich ihnen erklärte, was Symbole sind. Man könnte zum
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