Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Nicht einmal, daß ich büße, scheinst du zu wollen. Auf Gott kannst du auch nicht weisen und sagen: Alles, was er machte, ist gut und sinnvoll! Das geht auch nicht. Du bist Sein Gegenspieler. Was also ist die Hölle?«
»Was denkst du denn?« fragte er mich erneut. »Worauf würdest du dich aus moralischen Gründen einlassen… ehe du mich hier und jetzt zurückweist! Ehe du mich fliehst. Wie müßte die Hölle beschaffen sein, an die du glauben könntest, die du - wärest du an meiner Stelle - selbst schaffen würdest?«
»Ein Ort, an dem man dessen gewahr wird, was man anderen angetan hat; wo man bis in die kleinste Einzelheit jeder seiner Taten ins Auge blicken muß, so daß man nie, niemals wieder das gleiche täte. Ein Ort, an dem die Seelen - buchstäblich reformiert werden, indem sie ihre Sünden erkennen und auch erkennen, wie sie sie hätten vermeiden können und wie sie besser und richtiger gehandelt hätten. Wenn sie verstehen, wie du es von den Erwählten Scheols gesagt hast, wenn sie zu vergeben lernen, nicht nur Gott wegen des riesigen irdischen Schlamassels, sondern auch sich selbst wegen ihrer Verfehlungen, wegen ihrer abscheulichen jähzornigen Reaktionen, wegen ihrer Bosheit, wegen ihrer Gemeinheit. Wenn sie endlich jedem Wesen in völligem Verzeihen Liebe entgegenbringen, dann erst sind sie des Himmels würdig. Die Hölle müßte also der Ort sein, an dem sie die Folgen ihrer Taten erkennen, doch verbunden mit der barmherzigen Einsicht, daß sie es nicht besser gewußt haben.«
»Ja, genau so«, stimmte Memnoch zu. »Zu wissen, was anderen geschadet hat, zu erkennen, daß man unwissend war, daß man Macht hatte, obwohl es an Weisheit fehlte, und sich das zu verzeihen! Seinen Opfern zu vergeben und Gott zu vergeben und sich selbst zu vergeben.«
»Ja, so sollte es sein. Das wäre das Ende meines Zorns, meiner Empörung. Ich könnte meine wütend geballten Fäuste sinken lassen, wenn ich nur Gott und den Menschen und mir selbst vergeben könnte.«
Daraufhin schwieg Memnoch. Er saß da mit verschränkten Armen, die Augen weit geöffnet, die dunkle, glatte Stirn schimmerte in der feuchten Luft.
»So ist die Hölle, nicht wahr?« fragte ich angstvoll. »Es… es ist der Ort, wo man dich lehrt zu verstehen, was du einem anderen Wesen angetan hast… wo du dahin gelangst zu erkennen, welches Leid du über andere gebracht hast!«
»Ja, und sie ist schrecklich. Ich habe sie geschaffen, und ich leite sie, um die Seelen der Gerechten und der Ungerechten zu heilen, die Seelen derer, die Leiden ertrugen, und derer, die Gewalt verübten. Und nur das eine lehrt diese Hölle - Liebe.«
Ich fürchtete mich - fürchtete mich, so wie ich mich gefürchtet hatte, als wir nach Jerusalem gingen.
»Diese meine Seelen. Er liebt sie, wenn ich sie Ihm dann zuführe«, sagte Memnoch. »Und jede einzelne betrachtet Er als Rechtfertigung für seine Auffassung!«
Ich lächelte bitter.
»Kriege sind Ihm etwas Erhabenes, und Seuchen sind wie die Farbe Purpur vor Seinen Augen, und Selbstaufopferung betrachtet Er als eine ganz persönliche Verherrlichung Seiner Glorie! Als ob Er sich je aufgeopfert hätte! Er versucht, mich durch große Zahlen unterzukriegen. Auf der Erde ist im Namen des Kreuzes mehr Unrecht begangen worden als aus jedem anderen Grund, sei es für ein Symbol, einen Glauben oder eine Philosophie.
Und ich kann die Hölle mit derartiger Geschwindigkeit leeren, Seele um Seele, weil ich ihnen die absolute Wahrheit über menschliches Leiden offenbare, ihnen sage, was sie wissen und was sie tun müssen, damit sie in Scharen durch Seine Tore strömen können.
Doch wer kommt deiner Ansicht nach in die Hölle und fühlt sich am heftigsten betrogen? Wer fühlt den größten Zorn, die mindeste Neigung zu vergeben? Das Kind, das in der Gaskammer eines Konzentrationslagers starb? Der bluttriefende Krieger, dem man gesagt hatte, wenn er die Feinde des Staates ausrotte, sei ihm ein Platz in Walhalla, im Paradies, im Himmel sicher?«
Ich gab keine Antwort. Ich hörte ihm schweigend zu, beobachtete ihn.
Er beugte sich vor, lenkte bewußt meine Aufmerksamkeit auf sich, und dann änderte er seine Gestalt, verwandelte sich vor meinen Augen aus dem Teufel, dem bocksbeinigen, mit Hufen versehenen Tier-Mann, in den Engel Memnoch - Memnoch in seinem lose fallenden Gewand, der mich mit seinen hellen, strahlenden Augen unter den gerunzelten goldenen Brauen anblitzte.
»Die Hölle ist der Ort, an dem ich ausgleiche, was Er
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