Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
angesichts der siegreichen vorwärtsstürmenden Armee, die das Heim zerstört, die Herden zerstreut und mit ihren Spießen die Kinder zerfleischt, oder wenn sie sich für eine abstrakte Vorstellung von Gott aufopfern.
Seine Rechtfertigung? Das ist der Ablauf der Natur. Es ist, was Er selbst geschaffen hat. Und wenn zerschlagene, verbitterte Seelen zuerst durch meine Hände gehen und meine Lehren in der Hölle ertragen müssen, nun denn, um so herrlicher werden sie einst sein!«
»Und so wird deine Aufgabe immer schwieriger.«
»Ja und nein. Ich stehe vor dem Sieg. Allerdings muß ich zu seinen Bedingungen siegen. Die Hölle ist ein Ort des Leidens. Doch das sollten wir sehr sorgfältig überprüfen. Sieh dir an, was Er tat:
Als Er die Tore Scheols aufstieß, als Er sich in das Dämmerlicht Scheols begab wie der Gott Tammuz in der sumerischen Sage, scharten sich die Seelen um Ihn, und sie sahen die Wunden an Seinen Gliedern. Daß Er für sie gebüßt hatte, für sie gestorben sein sollte, gab ihnen, die so verunsichert waren, ein Ziel; und natürlich kamen sie in Seinem Gefolge durch die Tore des Himmels - denn plötzlich schien all ihr Leiden einen Sinn bekommen zu haben.
Aber hatte es wirklich einen Sinn? Kannst du den Kreislauf der Natur mit einem geheiligten Sinn versehen, indem du einfach dein göttliches Selbst darin einfügst? Genügt das?
Was geschieht denn mit den Seelen, die vor Verbitterung welken, die nie zur Reife kommen, weil die Stiefel der Krieger über sie hinweggetrampelt sind? Was ist mit den Seelen, die, durch unerträgliche Ungerechtigkeit verkrüppelt, mit Rüchen auf den Lippen in die Ewigkeit eingehen? Was ist mit dieser ganzen modernen Welt, die einen persönlichen Zorn gegenüber Gott empfindet, einen solchen Zorn, daß sie Jesus Christus und Gott selbst verflucht, wie schon Luther es tat und Dora und du ja auch - wie alle?
Die Menschen in der Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts haben nicht etwa den Glauben an Ihn aufgegeben. Es ist eher so, daß sie Ihn hassen, Ihn ablehnen; sie sind wütend auf Ihn. Sie fühlen… sie fühlen…«
»Sie fühlen sich Ihm überlegen«, sagte ich ruhig, und mir war intensiv bewußt, daß er genau die Worte wiederholte, die ich zu Dora gesagt hatte. Wir hassen Gott. Wir hassen Ihn.
»Ja«, bestätigte er. »Ja, ihr fühlt euch Ihm überlegen.«
»Du aber auch.«
»Ja. Ich kann den Seelen in der Hölle nicht Seine Wunden vorrühren. Das würde sie nicht überzeugen, diese bekümmerten Opfer, diese wütenden Leidenden, die Schmerz ertrugen über alle Seine Vorstellungen hinaus. Ich kann ihnen nur sagen, daß es die Dominikaner waren, die sie, in Seinem Namen, bei lebendigem Leibe verbrannten, daß sie sie für Hexen hielten. Oder daß die spanischen Söldner, die ihre Familien, ihre Verwandten, ihre Dörfer ausradierten, ganz richtig handelten, da ja auf dem Banner, das sie vorantrugen in die Neue Welt, seine blutenden Glieder abgebildet waren. Meinst du, es könnte jemanden aus der Hölle erlösen, wenn er erfährt, daß Gott es geschehen ließ? Und daß Er andere Seelen zu sich aufsteigen läßt, ohne daß sie auch nur ein winziges bißchen Leid zu ertragen hatten?
Wenn ich ihre Ausbildung mit dieser Vorstellung begänne - Christus ist für euch gestorben -, was denkst du, wie lange diese höllische Erziehung dauern würde?«
»Du hast mir noch nicht gesagt, was die Hölle ist und wie du dort lehrst.«
»Natürlich auf meine Art und Weise, das kann ich dir versichern. Ich habe meinen Thron über den Seinen erhoben - wie die Dichter und die Schriftgelehrten sagen -, denn ich weiß, daß es nie notwendig war zu leiden, damit eine Seele ins Himmelreich eingehen kann, daß weder Fasten noch Geißelung, weder Kreuzigung noch Tod notwendig waren für Empfänglichkeit und tiefes Verständnis für Gott. Ich weiß, die menschliche Seele wuchs über die Natur hinaus, und dafür brauchte sie nicht mehr als ein Auge für die Schönheit der Schöpfung! Hiob war vor seinen leidvollen Erfahrungen der gleiche Hiob wie hinterher! Was konnte das Leiden Hiob lehren, was er nicht schon vorher gewußt hatte?«
»Aber wie machst du das in der Hölle wieder gut?«
»Ich beginne jedenfalls nicht damit, den Seelen zu erzählen, daß für Gott das menschliche Auge die Vollkommenheit der Schöpfung darstellt, egal, ob es mit Grausen auf einen geschändeten Körper schaut oder ob sein Blick in Frieden auf einem Garten ruht.
Und daß es so ist, darauf besteht Er. Dein
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