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Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Titel: Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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so erregte, mit etwas in Verbindung, das an der gegenüberliegenden Wand hing, ein eingerahmtes Stück Tuch, ein gemaltes Christusgesicht. Ein Tuch. Das Schweißtuch der Veronika. Und vor kaum einer Stunde hatte er zu Dora gesagt: »13. Jahrhundert und so wunderschön, Dora, um Himmels willen, nimm es. Wenn ich dir diese Sachen nicht überlassen kann, Dora…« Also war dieses Antlitz Christi seine kostbare Gabe gewesen.
    »Ich nehme nichts mehr von dir, ich habe es dir schon gesagt, Daddy. Ich will nicht.«
    Er hatte sie gedrängt, indem er ihr klarzumachen versuchte, daß dieses Stück öffentlich ausgestellt werden könnte, so wie auch die anderen Reliquien, die er besaß, und sie damit für ihre Kirche Geld aufbringen könnte. Sie hatte zu weinen begonnen. Das war im Hotel gewesen, während David und ich nur ein paar Meter entfernt vom in der Bar gesessen hatten.
    »Und was, wenn diese Schweine mich zu fassen kriegen, wenn sie einen Haftbefehl erwirken, weil irgendein Geschäft aufgeflogen ist? Willst du etwa sagen, du nimmst meine Sachen dann nicht? Du willst zulassen, daß das alles Fremden in die Hände fällt?«
    »Aber das ist doch alles gestohlen, Daddy«, hatte sie geschluchzt. »Unsauber, befleckt!«
    Er konnte seine Tochter einfach nicht verstehen. Er schien schon seit seiner Kindheit ein Dieb gewesen zu sein. New Orleans. Das Haus in der St. Charles Avenue mit den Untermietern, dieser merkwürdigen Mischung aus Armut und Eleganz, und seiner Mutter, die meistens betrunken war. Der alte Kapitän mit dem Antiquitätenladen. All das ging ihm durch den Kopf. Der Kapitän hatte die Zimmer zur Straße gemietet, und er, mein Opfer, hatte ihm jeden Morgen, bevor er zur Schule ging, das Frühstück gebracht. Das war zu einer Zeit, als die Männer nach dem Abendessen auf der Veranda zu sitzen pflegten und auch die alten Damen mit ihren schicken Hüten. Tageszeiten, die ich nie wieder erleben würde. Traumgebilde.
    Nein, Dora würde dieses Standbild nicht mögen. Und plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob er es mochte. Eigentlich entsprach es nicht seinen üblichen Vorstellungen, die er den Leuten sowieso oft nur schwer übermitteln konnte. Er legte sich eine Art Verteidigung zurecht, als ob er mit dem Händler spräche, der dieses Stück gebracht hatte. »Es ist wirklich sehr schön, aber zu barock. Diese Verzerrung, die ich so liebe, die fehlt hier.«
    Ich lächelte. Wie ich den Verstand dieses Burschen liebte! Und den Geruch seines Blutes, ja. Ganz bewußt sog ich tief die Luft ein, ließ das Raubtier in mir die Oberhand gewinnen.
    Langsam, Lestat. Du wartest schon seit Monaten. Jetzt übereile nichts. Er ist selbst ein wahres Ungeheuer. Er hat Leute erschossen, erstochen. In einem kleinen Laden hatte er einst unterschiedslos nicht nur seinen Gegner, sondern auch die völlig unbeteiligte Frau des Ladeninhabers erschossen. Die Frau war im Weg gewesen. Und er war ganz kühl davongegangen. Das war in seinen Anfängen gewesen, in New York, noch bevor er nach Miami und Südamerika ging. Aber er erinnerte sich an diesen Mord, und durch seine Erinnerung wußte ich davon, so wie ich auch all diese anderen Toten vor mir sah, weil er so oft an sie dachte.
    Gerade untersuchte er die Bocksfüße von diesem Ding, diesem Engel, Teufel, Dämon. Mir wurde bewußt, daß die Flügel bis zur Decke reichten; wenn ich mich nicht zusammenriß, würde ich wieder zu zittern beginnen. Ich sagte mir wieder und wieder, daß ich auf festem Boden stand, nichts hier erinnerte an unbekannte Gefilde.
    Jetzt zog er das Jackett aus und stand in Hemdsärmeln da. Das war zuviel. Als er den Kragen öffnete, sah ich seinen nackten Hals, sah die so besonders verlockende Stelle direkt unterhalb des Ohrläppchens, diese Grenzlinie zwischen Hals und Nacken, die die Schönheit eines Mannes zusätzlich betont. Zum Teufel, das Wissen um die Symbolik, die einem entblößten Hals innewohnt, ist Allgemeingut, das hatte ich mir doch nicht gerade erst ausgedacht.
    Er gefiel mir von Kopf bis Fuß, doch was in seinem Kopf vor sich ging, war das eigentlich Verlockende für mich. Zum Kuckuck mit seiner asiatischen Schönheit und allem, was dazugehörte, zum Kuckuck mit seiner Eitelkeit, die er fünf Meter im Umkreis um sich herum ausstrahlte. Was in seinem Kopf vor sich ging, das war es, seine Gedanken; und die waren im Moment fest auf diese Statue gerichtet und barmherzigerweise einmal nicht auf Dora.
    Er zog einen weiteren Strahler heran, und indem er

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