Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Eine geordnete Folge von Überlegungen und Möglichkeiten lief in seinem Kopf ab. Er kannte einen Kunsthändler, der trottelig genug wäre, dieses Ding anzuliefern und die Tür offenzulassen, aber der Mann hätte sich vorher telefonisch gemeldet. Und was war das überhaupt? Mesopotamisch? Assyrisch? Plötzlich ließ er alle Vernunft außer acht, ganz impulsiv streckte er die Hand aus und berührte den Stein. Gott, das Ding entzückte ihn so sehr, daß er sich total idiotisch benahm.
Immerhin hätte einer seiner Feinde hier sein können. Aber andererseits, warum hätte ein Gangster oder jemand vom FBI so etwas mitbringen sollen? Wie auch immer, er war gebannt von diesem Stück. Und ich konnte es immer noch nicht deutlich sehen. Zwar hätte ich ohne die violette Brille wesentlich mehr erkennen können, doch ich wagte keine Bewegung. Ich wollte das einfach nicht verpassen, diese Anbetung, die er dem neuen Objekt entgegenbrachte. Ich konnte sein ungezügeltes Verlangen nach dem Besitz dieser Figur spüren, sie hierzubehalten… das gleiche Verlangen, das er auf den ersten Blick in mir erregt hatte.
Er hatte nur noch die Statue im Sinn, wie fein sie gearbeitet war, nein, nicht antik, eher ein moderneres Werk, vielleicht 17. Jahrhundert, vom Stil her zu urteilen; steingewordenes Abbild eines gefallenen Engels. Ein gefallener Engel. Er hob die linke Hand und strich damit über das granitene Antlitz, das Haar. Mich wunderte, daß er sich nicht auch noch auf die Zehenspitzen stellte und es küßte.
Verdammt, ich konnte nichts sehen! Wie kam er bloß mit dieser Finsternis zurecht? Aber er stand schließlich auch direkt vor der Statue, und ich - fünf Meter entfernt und eingeklemmt zwischen zwei Heiligen - hatte einen schlechten Platz erwischt. Endlich, jetzt griff er nach einer der Halogenlampen und knipste sie an. Das Ding sah aus wie ein beutegieriges Insekt. Er bewegte das eiserne Gestänge, bis der Lichtkegel das Gesicht der Statue erfaßte. Phantastisch, so hatte ich beider Profile gleichzeitig im Blick.
Er murmelte entzückt vor sich hin. Das war einmalig! Unwichtig, wer der Händler war, verziehen die offene Tür, kein Gedanke an eventuelle Gefahr. Er schob die Pistole zurück ins Halfter, ohne es richtig zu merken, und jetzt stellte er sich wirklich auf die Zehen, um dieses furchterregende, gemeißelte Antlitz in Augenhöhe zu haben.
Die Flügel waren gefiedert, das sah ich nun. Gefiedert, also kein Reptil. Das Antlitz: klassisch, kraftvoll, die griechische Nase, das Kinn… und doch solche Wildheit in diesem Profil. Und warum war die Statue schwarz? Sollte das vielleicht der heilige Michael sein, der, zornig und von Gerechtigkeit erfüllt, die Teufel in die Hölle zurückstieß? Nein, dafür war das Haar zu üppig und wildverschlungen. Hämisch, Brustpanzer - und dann sah ich die Lösung des Rätsels:
Der Engel hatte Bocksbeine. Der Teufel. Wie das Wesen, das ich gesehen hatte. Aber das war ja Quatsch. Ich hatte nicht einmal das Gefühl, daß der Verfolger in der Nähe sein könnte. Keine Desorientierung. Ich spürte nicht einmal wirklich Angst. Nur einen kleinen Schauder, sonst nichts.
Ich verhielt mich ganz still. Nimm dir Zeit, dachte ich, überleg jetzt genau. Hier bist du mit deinem Opfer, und der Zufall, daß diese Statue auch hier ist, bereichert das ganze Szenarium nur zusätzlich. Er richtete einen weiteren Halogenstrahl auf das Ding. Die Art, wie er es betrachtete, wirkte beinahe erotisch. Ich lächelte. Genauso erotisch, wie ich ihn betrachtete - diesen siebenundvierzigjährigen kraftstrotzenden Mann mit der Ausstrahlung eines Kriminellen. Ohne weitere Gedanken an eine mögliche Bedrohung zu verschwenden, trat er zurück und betrachtete seinen neuen Besitz. Wo kam das her? Von wem? Der Preis interessierte ihn einen Dreck. Wenn doch Dora… nein, Dora würde dieses Ding nicht mögen. Dora. Dora, die ihn heute abend bis ins Herz getroffen hatte, indem sie sein Geschenk ablehnte. Seine Haltung änderte sich total. Er wollte nicht wieder an Dora denken, an all die Dinge, die sie gesagt hatte - daß er nicht mehr so weitermachen dürfe, daß sie nicht einen Cent mehr für ihre Kirche von ihm nehmen würde, daß sie ihn trotz allem liebe, daß sie schrecklich leiden würde, wenn man ihn vor Gericht stellte - und daß sie das Tuch nicht wolle.
Was für ein Tuch? Nur eine Fälschung, hatte er gesagt, aber eine der besten, die ihm bisher untergekommen sei. Tuch? Auf einmal brachte ich die Erinnerung, die ihn
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