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Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Titel: Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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vielleicht ein Geschenk von Dora, und da lag nagelneu »Gottes-Geschichte« von einer gewissen Karen Armstrong. Dann noch etwas über den Sinn des Lebens: »Die Gegenwart verstehen« von Brian Appleyard. Gewichtige Literatur, aber das las er gern, die Art Bücher, die ich auch mag. Und er hatte diese Bücher benutzt, schwer haftete sein Geruch an ihnen, nichts von Dora.
    Er war offenbar häufiger hier gewesen, als ich gedacht hatte. Mit meinen telepathischen Kräften durchforschte ich die dämmrigen Ecken, tastete Gegenstände ab, sog dann tief die Luft ein. Ja, er war sehr oft hier gewesen und nicht allein, und diese andere Person… war hier gestorben! Davon hatte ich bisher nichts gewußt, das gab mir einen zusätzlichen Vorgeschmack auf dieses Mahl. So hatte also in diesem Unterschlupf der mörderische Drogenhändler einst einen jungen Mann geliebt, und das war keine billige Affäre gewesen. Wie Blitzlichter explodierten Eindrücke davon in meinem Gehirn, beziehungsweise es war eher ein Ansturm von Gefühlen, die mich ziemlich betroffen machten, so schlimm waren sie. Dieser Tod lag noch nicht lange zurück. Wäre mir mein Opfer damals begegnet, als sein Freund im Sterben lag, nie hätte ich mich an seine Fersen geheftet; ich hätte ihn einfach in Ruhe gelassen. Andererseits war er aber auch so faszinierend!
    Gerade kam er über die versteckte Hintertreppe nach oben, vorsichtig, Schritt für Schritt, die Hand am Schießeisen, das er unter dem Jackett im Schulterhalfter trug, wie in einem Hollywood-Reißer - das einzige, was man vielleicht bei ihm vorhersehen konnte. Außer natürlich, daß es in der Drogenszene viele Exzentriker gibt.
    Er erreichte die Tür, sah, daß sie offen war. Wut! Ich schlüpfte, um mich zu verbergen, zwischen zwei verstaubte Heilige in einer Ecke gegenüber dem überwältigenden granitenen Standbild. Dort war das Licht so gedämpft, daß er mich nicht sofort sehen konnte, außer mit einem der Halogenstrahler, und der gab nur einen Lichtpunkt.
    Jetzt horchte er angespannt. Die aufgebrochene Tür versetzte ihn in Rage, er war mehr als wütend und hatte nicht die Absicht, das un-geprüft durchgehen zu lassen; eine kleine Gerichtsverhandlung lief in seinem Kopf ab. Nein, lautete anschließend sein Urteil, niemand konnte von dieser Wohnung wissen! Das mußte irgendein mieser kleiner Dieb gewesen sein, zur Hölle mit ihm. Er zog die Pistole und untersuchte die Zimmer, auch die, die ich ausgelassen hatte. Ich hörte die Lichtschalter, sah das Licht im Flur aufflammen.
    Wie zum Kuckuck konnte er wissen, daß da niemand war? Ich wußte es natürlich, aber was machte ihn so sicher? Vielleicht war es dieser Instinkt, der ihn bisher bewahrt hatte, diese Mischung aus Erfindungsreichtum und Sorglosigkeit.
    Und dann kam der absolut lustvolle Augenblick. Er war überzeugt, daß er allein war. Er betrat den Wohnraum, blieb mit dem Rücken zum Flur stehen und blickte sich langsam und sorgfältig um; natürlich bemerkte er mich nicht. Dann steckte er den schweren Neun-Millimeter-Revolver wieder unter die Jacke und zog bedächtig seine Handschuhe aus.
    Das Licht reichte aus, um mich all das erkennen zu lassen, was ihn für mich so begehrenswert machte. Groß, gerade Haltung, weiches schwarzes Haar, die asiatischen Gesichtszüge nicht eindeutig indisch oder japanisch; vielleicht eher griechisches oder italienisches oder sogar Zigeunerblut; ein gewitzter Ausdruck in den schwarzen Augen und ein bemerkenswert symmetrischer Gesichtsschnitt - eines der wenigen Merkmale, die Dora von ihm hatte. Dora war sehr hell, ihre Mutter mußte schneeweiße Haut gehabt haben. Ich bevorzugte seine Hautfarbe, karamelbraun.
    Plötzlich fühlte er sich verunsichert. Er drehte sich um, die Augen auf etwas geheftet, das ihn aufgeschreckt hatte. Es hatte nichts mit mir zu tun, ich hatte mich nicht gerührt. Doch sein Erschrecken richtete eine Trennwand zwischen seinem und meinem Geist auf; seine extreme Wachsamkeit ließ ihn nicht mehr in logischen Sequenzen denken. Er entfernte sich noch einen Schritt von mir, und in diesem Augenblick empfing ich ein paar sich überstürzende Bilder und wußte, was ihn so irritiert hatte; es war die Statue aus schwarzem Granit.
    Ja, eindeutig. Er kannte das Ding nicht, wußte nicht, wie es hierhergekommen war. Er ging näher heran, vorsichtig, als ob jemand dahinter verborgen sein könnte. Dann wirbelte er herum, und während er den Raum sorgfältig mit den Augen absuchte, zog er wieder den Revolver.

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