Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Selbst die Decke war aus Gold. Zwei Steinsarkophage standen in der Mitte, beide mit dem Relief einer Gestalt verziert, die aus einer vergangenen Epoche stammte, das heißt, steif und viel strenger als normalerweise. Und als ich näher trat, sah ich, dass es Ritter mit Helmen waren, angetan mit langen Waffenröcken und großen Schwertern an ihrer Seite. Ihre behandschuhten Hände waren im Gebet zusammengelegt, die Augen in ewigem Schlaf geschlossen. Beide waren vergoldet und mit Silber eingelegt und vielen kleinen Edelsteinen besetzt. Amethyste zierten ihre Gürtel, und der Halsausschnitt ihrer Gewänder war mit Saphiren geschmückt. Topase schimmerten an den Schwertscheiden.
»Ist das nicht verlockend für einen Dieb?«, fragte ich, »so, wie das hier unter dem halb verfallenen Haus liegt?«
Mein Herr lacht laut auf.
»Du lehrst mich jetzt schon Vorsicht?«, fragte er lächelnd. »Du bist ganz schön frech! Kein Dieb könnte hier eindringen. Du hast deine eigene Kraft nicht bedacht, als du die Türen öffnetest! Wenn du so unsicher bist, dann schau dir nur den Riegel an, den ich vorgelegt habe! Und nun sieh zu, ob du den Deckel dieses Sarges öffnen kannst. Los doch! Lass sehen, ob deine Kraft es mit deinem Wagemut aufnehmen kann.«
»Ich wollte nicht frech sein«, protestierte ich. »Gott sei Dank lächelst du noch.« Ich hob den Deckel und klappte die untere Hälfte auf. Es war eine Kleinigkeit für mich, obwohl ich wusste, dass die Platte aus schwerem Stein war. »Ah, ich sehe«, sagte ich kleinlaut. Ich schenkte ihm ein strahlendes, unschuldvolles Lächeln. Die Innenseite war mit königlich rotem Damast gepolstert.
»Steig in diese Wiege, mein Kind«, sagte er. »Hab keine Angst, während du auf den Sonnenaufgang wartest. Wenn es so weit ist, schläfst du schon tief und fest.«
»Kann ich mich nicht mit dir niederlegen?«
»Nein, dein Platz ist hier in diesem Bett, das ich schon vor langer Zeit für dich vorbereitet habe. Ich habe mein eigenes kleines. Plätzchen, es ist nicht breit genug für zwei. Aber du bist nun mein, Amadeo, mein. Überlass mir einen letzten, langen Kuss, ah, süß, ja süß -«
»Herr, lass nicht zu, dass ich dich erzürne. Lass mich nie -«
»Nein, Amadeo, du sollst mein Herausforderer sein, mein Inquisitor, sei mein kühnes, undankbares Kind.« Er wirkte ein wenig traurig. Dann stieß er mich sanft an und wies auf den Sarg. Der purpurne Seidendamast schimmerte.
»So liege ich nun darin, und noch so jung«, flüsterte ich.
Ich sah einen schmerzlichen Schatten über sein Gesicht huschen, nachdem ich das gesagt hatte. Ich bedauerte es sogleich. Ich wollte etwas sagen, es rückgängig machen, doch er bedeutete mit einer Geste, dass ich voranmachen sollte.
Ach, wie kalt es war, trotz der Kissen, und wie hart! Ich zog den Deckel über mir an seinen Platz und lag still, lauschte, lauschte dem Klang der verlöschenden Fackel, lauschte, wie sich Stein auf Stein rieb, als Marius seinen eigenen Sarg öffnete.
Dann kam seine Stimme: »Gute Nacht, mein junger Geliebter, mein Kind, mein Sohn.«
Ich ließ meinen Körper erschlaffen. Köstlich war dieses einfache Entspannen. Und wie neu alles für mich war…
Weit weg, im Land meiner Geburt, stimmten die Mönche in dem Höhlenkloster ihre Choräle an.
Schläfrig ließ ich mir alles, woran ich mich erinnern konnte, noch einmal durch den Kopf gehen. Ich war in meiner Heimat Kiew gewesen. Ich hatte meine Erinnerungen zu einem Bild zusammenge setzt, das mich alles Wissenswerte lehren sollte. Und in diesen letzten Augenblicken der Nacht, da ich noch bei Bewusstsein war, sagte ich meinen Erinnerungen Lebewohl, Lebewohl für immer, sagte Lebewohl zu ihren Glaubenssätzen und ihren Beschränkungen.
Ich ließ den Zug der Heiligen Drei Könige vor meinem inneren Auge erstehen, wie er in herrlichem Glanze auf der Wand im Haus meines Herrn abgebildet war, diesen Zug, den zu studieren ich Zeit hatte, wenn die Sonne aufs Neue sank. Es schien mir mit meiner wilden, leidenschaftlichen Seele, mit meinem wiedergeborenen vampirischen Herzen, dass die Könige nicht nur zu Jesu Geburt gekommen waren, sondern ebenfalls zu meiner Wiedergeburt.
9
W enn ich gedacht hatte, dass meine Umwandlung in einen Vampir mich von Marius als Vormund und Lehrherrn befreit hätte, so war ich im Irrtum. Er ließ mich mitnichten sofort von der Leine, damit ich die Freuden meiner neuen Kräfte genießen konnte. In der Nacht nach meiner Metamorphose begann er erst recht mit
Weitere Kostenlose Bücher