Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Opfer wabern sah, noch ehe ich mich ihnen näherte. Manche Männer schienen in rot gefärbtem Dunst einherzugehen, andere ein durchdringendes, orangefarbenes Leuchten auszustrahlen. Die Wut jener Opfer, die besonders gemein und zählebig waren, zeigte sich oft in einem knalligen Gelb, das mich blendete und durchbohrte, sowohl wenn ich zuschlug, als auch während ich dem Opfer das Blut aussaugte.
Anfangs tötete ich schrecklich wild und impulsiv. Als Marius mich in einem Unterschlupf von Meuchelmördern losließ, ging ich mit einer plumpen Wut zu Werke, zerrte meine Beute aus der Kneipe oder dem Hurenhaus, schnitt ihm auf dem Kai den Weg ab und zerfetzte ihm die Kehle, als wäre ich ein tollwütiger Hund. Ich trank gierig, so dass dem Opfer häufig das Herz zersprang.
Wenn das Herz nicht mehr schlägt, wenn der Mann tot ist, gibt es kein Organ mehr, das dir das Blut entgegenpumpen kann. Das mindert den Genuss.
Doch mein Herr, trotz all seiner aufgeblasenen Reden über die Tugenden der Menschen und trotz seines unumgänglichen Bestehens auf unsere Pflichten, lehrte mich dennoch mit Raffinesse zu töten. »Geh es langsam an«, sagte er. Wir wanderten entlang der schmalen Uferränder der Kanäle oder fuhren in der Gondel, während wir mit unserem übernatürlichen Gehör auf Unterhaltungen lauschten, die für uns gedacht schienen. »Und meistens brauchst du nicht einmal ein Haus zu betreten oder das Opfer herauszuzerren. Bleib einfach draußen stehen, lies die Gedanken des Mannes, lege still, ohne Worte, einen Köder aus. Wenn du seine Gedanken lesen kannst, kann er mit größter Wahrscheinlichkeit auch deine Botschaft empfangen. Du kannst ihn ohne Worte herauslocken. Du kannst einen unwiderstehlichen Sog ausüben. Wenn er dir dann entgegenkommt, nimm ihn. Und es gibt keinen Grund, ihn leiden zu lassen oder tatsächlich Blut zu vergießen. Nimm das Opfer in deine Arme, liebe es meinetwegen. Hätschele es und lass deine Zähne vorsichtig eindringen. Dann schmause so langsam, wie du kannst. Auf diese Weise wird sein Herz dich leiten bis zu seinem Ende. Was diese Visionen und die Farbspiele, von denen du sprichst, angeht, so versuche, daraus zu lernen. Während das Opfer stirbt, lass dir von ihm Wissenswertes über das Leben an sich übermitteln. Und wenn du sein ganzes, langes Leben vor dir siehst, schieb es nicht fort, sondern genieße es. So wie du sein Blut verarbeitest, verarbeite auch sein Leben. Und die Farben, von denen lass dich durchdringen. Die gesamte Erfahrung soll dich überfluten. Das heißt, sei sowohl aktiv als auch gänzlich passiv. Behandle dein Opfer wie beim Liebesspiel. Und lausche immer auf den Augenblick, in dem das Herz aufhört zu schlagen. Du wirst in dem Moment einen unleugbar orgiastischen Gefühlssturm erleben, aber das muss nicht so sein.
»Lass die Leiche anschließend verschwinden oder vergewissere dich, dass du die punktförmigen Wunden an ihrem Hals vernichtet hast. Nur ein Tröpfchen deines Blutes, mit der Zungenspitze aufgebracht, wird das schon zuwege bringen. In Venedig sind Leichen nichts Außergewöhnliches. Hier musst du dir nicht so viel Mühe machen. Doch wenn wir außerhalb, in den Dörfern ringsum, auf die Jagd gehen, dann musst du vielleicht sogar die Überreste vergraben.« Ich lauschte diesen Lektionen nur zu begierig. Zusammen zu jagen war ein Vergnügen sondergleichen. Ich erkannte schon bald, dass Marius bei den Morden, die er vor meiner Umwandlung unter meinen Augen begangen hatte, sehr plump zu Werke gegangen war. Ich wusste nun, wie ich beim Erzählen wohl klar gemacht habe, dass er bei mir Mitgefühl für die Opfer erregen wollte. Er wollte, dass ich wahres Grauen erlebte. Er wollte, dass der Tod für mich etwas Schändliches war. Doch wegen meiner Jugend, wegen meiner Verehrung für ihn und wegen der Gewalt, die mir in meinem kurzen sterblichen Leben schon angetan worden war, hatte ich darauf nicht so reagiert, wie er es gehofft hatte. Wie auch immer, er zeigte sich nun als ein wesentlich geschickterer Mörder. Häufig nahmen wir ein Opfer gemeinsam, so dass ich von der Kehle des Mannes trank, während er sich an dessen Handgelenk gütlich tat. Manchmal erfreute er sich daran, das Opfer festzuhalten und mir das Blut ganz allein zu überlassen.
Da ich noch ein junger Vampir war, hatte ich Nacht für Nacht Durst. Drei oder vier Nächte wäre ich vielleicht ohne zu töten ausgekommen, ja, und manchmal hielt ich das auch durch, doch wenn ich mir das Blut eine weitere
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