Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
kann. Und tatsächlich kann man fast jeden Kunstschatz dieser Stadt und auch Venedigs, den ich geschildert habe, noch heute sehen. Man muss nur hinfahren. Die Türen des Baptisteriums, die von Lorenzo Ghiberti stammten, entzückten mich, aber es gab auch eine ältere Arbeit von Andrea Pisano, die das Leben von Johannes dem Täufer darstellte, und auch die wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Meine Vampiraugen ließen mich die wunderbaren Einzelheiten dieses Bronzegusses so genau erkennen, dass ich kaum einen entzückten Seufzer unterdrücken konnte. Dieser Augenblick steht mir noch deutlich vor Augen. Ich denke, dass ich da glaubte, nichts könne mich je wieder verletzen oder betrüben, dass ich in dem vampirischen Blut den Balsam der Erlösung gefunden hatte. Und das Merkwürdige ist, dass ich nun, während ich dir die Geschichte diktiere, wieder dasselbe glaube. Obwohl ich unglücklich bin, vielleicht auf ewig sogar, glaube ich wieder an die übergeordnete Wichtigkeit der Sinneslust. Meine Gedanken wandern zu D. H. Lawrence, dem Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der in seinen Berichten über Italien Blakes Bild des »Tiger, Tiger brennend hell …« in Erinnerung ruft.
Lawrence sagte es so:
Dies ist die Überlegenheit des Fleisches, dass es alles verzehrt und sich in eine auflodernde, lohgelbe Flamme verwandelt, einen wahrhaft brennenden Busch.
Dies ist ein Weg zur Wandlung in die ewige Flamme, nämlich die Wandlung durch die sinnliche Ekstase.
Nun habe ich etwas gemacht, das für einen Erzähler riskant ist. Ich habe den Fortgang der Handlung außer Acht gelassen, wie mir der Vampir Lestat, da bin ich mir sicher, beweisen würde (er hat mehr Übung darin als ich und hat, ob er es nun zugibt oder nicht, den Tiger in seiner Geschichte ebenso benutzt). Deshalb muss ich schnell zu dem Augenblick zurückkehren, an dem ich mich auf der Piazza del Duomo habe stehen lassen, Seite an Seite mit Marius, in Betrachtung des in Bronze gegossenen Genius’ von Ghiberti versunken, der von Sehern und Heiligen kündet. Wir nahmen uns Zeit dabei. Marius sagte leise, dass direkt nach Venedig Florenz die Stadt seiner Wahl wäre, weil auch hier so viele Dinge zu großartiger Blüte gelangt seien. »Aber ich kann nicht ohne das Meer sein«, vertraute er mir an. »Und wenn du dich umsiehst, merkst du, dass diese Stadt ihre Schätze mit düsterer Wachsamkeit fest umfangen hält, wohingegen in Venedig jede gleißende Palastfassade sich unter dem Licht des Mondes dem Allmächtigen darbietet.«
»Herr, dienen wir IHM? Ich weiß, dass du die Mönche verurteilst, die mich aufzogen, du verdammst das wütende Salbadern Savonarolas, aber führst du mich nun auf einem anderen Weg wieder zu demselben Gott?«
»So ist es, Amadeo, genau das tue ich«, sagte Marius. »Doch als der Heide, der ich bin, bin ich nicht bereit, es so einfach zuzugeben, weil die ganze Sache in ihrer Komplexität missverständlich ist. Aber ich gebe es zu, ich finde Gott in dem Blut. Ich finde Gott im Fleischlichen. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass der geheimnisumwitterte Christus für seine Anhänger auf ewig sein Fleisch und Blut darbietet, in der Hostie bei der Wandlung.«
Diese Worte haben mich so sehr bewegt! Mir war, als wäre die Sonne, der ich für immer abgeschworen hatte, aufgegangen, um mir die Nacht zu erhellen.
Wir schlüpften durch die Seitentür der dunklen Kathedrale, und ich ließ meinen Blick über den weiten Steinboden hin zum Altar wandern. War es möglich, dass ich Christus auf eine andere Art wieder für mich haben konnte? Vielleicht hatte ich ja doch nicht für immer auf IHN verzichtet. Ich versuchte, diese bekümmerten Gedanken meinem Herrn zu vermitteln. Christus … auf eine andere Art. Ich konnte es nicht erklären, und schließlich sagte ich: »Ich stolpere über meine Worte.«
»Amadeo, so geht es uns allen, wenn wir uns auf das Feld der Geschichte begeben. Diese Vorstellung von einem höheren Wesen stolpert auf ihrem Weg durch die Jahrhunderte. SEINE Worte und die Prinzipien, die wir IHM zuordnen, stolpern Hals über Kopf hinter IHM her. Und so ist dieser Christus auf seiner Wanderung vereinnahmt worden von den predigenden Puritanern einerseits und den lehmverkrusteten, hungernden Eremiten andererseits. Der güldene Lorenzo de’ Medici hier feiert seinen HERRN in Gold und Farben und Mosaiksteinen.«
»Aber ist Christus der leibhaftige Gott?«, flüsterte ich.
Keine Antwort. Das versetzte meiner Seele einen
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