Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Wunder -« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Dass der HERR selbst auf die Erde kommen sollte, dass er zu einem leibhaftigen, körperlichen Wesen werden sollte, um uns besser zu erkennen und zu verstehen! Ach, wenn Er je die Idee hatte, einen Gott in Menschengestalt zu machen, gab es dann einen besseren, als den, der ein leibhaftiger Mensch wurde? Ja, ich würde dir sagen, ja, dein Christus, der Christus aller Menschen, selbst der Mönche in Kiew, er ist der HERR! Nur achte dein Leben lang auf die Lügen, die sie in Seinem Namen erzählen, und die Taten, die in Seinem Namen geschehen. Denn auch Savonarola berief sich auf den HERRN, als er den Feind aus der Fremde lobte, der sich über Florenz hermachte, und die, die Savonarola als falschen Propheten verbrannten, auch sie beriefen sich auf Christus, den HERRN, als sie die Flammen unter seinem schlaffen Körper schürten.«
Ich war von Tränen überwältigt.
Mein Herr saß schweigend da, aus Respekt vielleicht, aber vielleicht auch nur, um seine Gedanken zu ordnen. Dann tauchte er abermals die Feder ein und schrieb eine ganze Zeit lang, viel schneller als jeder Mensch, aber mit fester, eleganter Hand, ohne auch nur ein Wort durchzustreichen.
Endlich legte er die Feder nieder und schaute mich lächelnd an. »Ich mache mich auf, um dir etwas zu zeigen, und nie kommt es wie geplant. Heute Nacht wollte ich, dass du die Gefahren erkennst, die in unserer Fähigkeit zu fliegen liegen, dass wir uns zu leicht an einen anderen Ort versetzen können, und dass dieses Gefühl, sich nach Belieben hierhin und dorthin bewegen zu können, eine Täuschung ist, vor der wir uns hüten müssen. Und nun schau, wie anders es gekommen ist.«
Ich sagte nichts darauf.
»Ich wollte, dass du dich ein wenig fürchtest«, sagte er.
»Herr«, sagte ich, während ich mir die Nase mit dem Handrücken wischte, »du kannst darauf zählen, dass ich mich noch heftig genug fürchte, wenn es so weit ist, denn ich werde diese Fähigkeit e rlangen, das weiß ich. Ich kann es jetzt schon spüren. Und fürs Erste halte ich sie für etwas Herrliches, und deswegen, wegen dieser Fähigkeit, nagt ein finsterer Gedanke in mir.«
»Welcher denn?«, fragte er mich ganz liebevoll. »Du weißt doch, ich finde, dass dein engelsgleiches Gesicht genauso wenig für Trübsinn gemacht ist wie die gemalten Gesichter des Fra Angelico. Was sehe ich da für einen Schatten? Was ist das für ein finsterer Gedanke?«
»Bring mich dorthin, Herr«, sagte ich. Ich bebte, und doch sagte ich es. »Lass uns deine Fähigkeit dazu nutzen, um viele, viele Meilen zurückzulegen, bis weit in den Norden Europas. Bring mich dorthin, zurück in das Land, das in meiner Vorstellung zum Fegefeuer geworden ist. Bring mich nach Kiew.«
Er nahm sich Zeit: mit der Antwort.
Der Morgen nahte. Marius ergriff seinen Umhang, erhob sich aus dem Stuhl und nahm mich mit sich hinauf aufs Dach.
In der Ferne konnten wir die allmählich aufhellenden Wasser der Adria sehen, die glitzernd unter den nächtlichen Gestirnen lag, und dahinter den vertrauten Wald der Schiffsmasten. Von Inseln weiter draußen blinkten kleine Lichtpunkte herüber. Der Wind war mild und salzig und trug eine besondere, köstliche Frische mit sich, die man nur spürt, wenn man alle Furcht vor dem Meer verloren hat. »Dein Verlangen zeugt von Mut, Amadeo. Wenn du es wirklich willst, werden wir schon morgen Nacht aufbrechen.«
»Hast du je zuvor eine so weit Reise gemacht?«
»Wenn es um Meilen, um Entfernung geht, dann ja, jedoch noch nie, wenn es darum ging, dass jemand auf der Suche nach Verstehen ist. Nein, da kam ich nie so weit.«
Er nahm mich in die Arme und brachte mich zu dem Palazzo, wo unsere Gruft versteckt lag. Als wir den schmutzigen Treppenaufgang erreichten, der so vielen Armen als Schlafplatz diente, war ich durchfroren bis ins Mark. Vorsichtig bahnten wir uns den Weg zwischen ihnen hindurch bis zu dem Keilereingang.
»Entzünde die Kerze für mich, Herr. Ich zittere so, und ich möchte gern das Gold ringsum sehen, wenn ich darf.«
»Da ist es«, sagte er. Wir standen in unserer Krypta mit den beiden verzierten Sarkophagen. Ich legte meine Hand auf den De ckel des meinen, und ganz plötzlich überfiel mich abermals eine Vorahnung dass alles, was ich liebte, nur von sehr kurzer Dauer wäre. Marius muss mein Zögern gesehen haben. Er fuhr mit der rechten Hand mitten durch die Flamme der Fackel und legte seine erwärmten Finger an meine Wange. Dann küsste er
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