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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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besaß, die ich jedoch, wie er sagte, im Laufe der Zeit erwerben würde. Er konnte mit der Kraft seines Geistes Feuer entzünden, doch nur unter optimalen Bedingungen, das heißt, wenn die Fackel schon mit Pech versehen war. Er konnte mit ein paar geschickten Griffen über Mauervorsprünge und Fenstersimse mühelos ein Gebäude erklettern, indem er sich mit eleganten, sprungartigen Bewegungen nach oben schnellte, und er konnte in der tiefsten See schwimmen wie ein Fisch. Natürlich waren seine vampirische Sehkraft und sein Hörvermögen auch viel intensiver ausgeprägt als bei mir, und während mich die fremden Gedankenstimmen überrollten, wusste er, wie man sie drastisch ausschloss. Das musste ich erst noch lernen, und daran arbeitete ich auch verzweifelt, denn es gab Zeiten, da war ganz Venedig für mich nur ein schrilles Durcheinander von Stimmen und Gebeten.
    Aber die größte seiner Fähigkeiten war die, sich in die Lüfte zu erheben und große Entfernungen mit unglaublicher Geschwindigkeit zurückzulegen. Das hatte er mir häufig genug bewiesen, doch eigentlich immer, wenn er mich hochgehoben und mit sich fortgetragen hatte, hatte er mein Gesicht verhüllt oder meinen Kopf niedergedrückt, so dass ich nicht sehen konnte, wie und wohin wir uns bewegten.
    Warum er im Zusammenhang mit dieser Gabe so verschwiegen war, konnte ich nicht verstehen. Eines Nachts wollten wir zu einem Fest mit Feuerwerken und von Fackeln beleuchteten Schiffen, und er weigerte sich, uns auf diese magische Weise zum Lido zu befördern. Da endlich bedrängte ich ihn mit dieser Frage.
    »Es ist eine Gabe, die Angst macht«, sagte er kühl. »Es ängstigt, so von der Erde losgelöst: zu sein. Anfangs ist diese Gabe nicht ganz risikolos. Wenn man das Geschick erworben hat, sich sacht in die höheren Schichten der Atmosphäre gleiten zu lassen, lässt es nicht nur den Körper, sondern auch die Seele zu Eis erstarren. Es scheint nicht übernatürlich, sondern überirdisch zu sein.«
    Ich konnte sehen, dass es ihn peinigte. Er schüttelte den Kopf. »Es ist die eine Gabe, die gänzlich unmenschlich zu sein scheint. Kein Mensch kann mich lehren, wie man sie am besten nutzt. Bei den anderen Fähigkeiten sind Menschen meine Lehrmeister. Das menschliche Herz ist meine Schule. Doch nicht bei dieser Gabe. Da bin ich der Zaubermeister, da bin ich der Hexenmeister. Sie ist verführerisch, und man könnte ihr verfallen.«
    »Aber wieso denn?«, wollte ich wissen.
    Er war ratlos. Er wollte nicht einmal darüber sprechen. Endlich wurde er ein wenig ungeduldig.
    »Manchmal quälst du mich mit deinen Fragen, Amadeo. Du fragst doch eigentlich, ob ich dir die Anleitung dazu schuldig bin. Glaub mir, das bin ich nicht.«
    »Herr, du hast mich zu dem gemacht, was ich bin, und du bestehst darauf, dass ich gehorsam bin. Warum sollte ich Abelard lesen, und Duns Scotus’ Geschreibsel über Oxford, wenn nicht deinetwegen?« Ich unterbrach mich. Ich dachte an meinen Vater und wie ich ihn immerzu mit giftigen Worten und frechen Antworten und Beschimpfungen bombardiert hatte.
    Ich verlor den Mut. »Herr«, bat ich, »erklär es mir einfach.« Er macht eine Geste, als wollte er sagen: Ach, so einfach, hm? Doch dann fuhr er fort: »Also gut. Es ist so: Ich kann mich sehr hoch in die Luft erheben, und ich kann mich sehr schnell fortbewegen. Die Wolken zu durchstoßen gelingt mir nur selten. Meistens bewege ich mich unterhalb davon. Aber ich kann so schnell reisen, dass die Welt unter mir verschwimmt. Wenn ich wieder zu Boden sinke, finde ich mich in fremden Ländern wieder. Und ich sage dir eins, es ist zwar Magie, aber es ist eine zutiefst verletzende und verstörende Sache. Manchmal bin ich verwirrt, schwindelig, nicht mehr sicher, was meine Ziele sind, ob ich noch den Willen zum Leben habe, nachdem ich diese Fähigkeit einsetzte. Wahrscheinlich ist der Übergang zu plötzlich, das wird’s wohl sein. Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, und nun sage ich es dir. Aber du bist noch ein Knabe, du kannst es kaum ermessen.«
    Das war auch so.
    Doch schon kurze Zeit später wünschte er, dass wir beide eine längere Reise unternähmen als je zuvor. Es war nur eine Sache von wenigen Stunden, doch zu meinem größten Erstaunen reisten wir zwischen Sonnenuntergang und frühem Abend bis ins weit entfernte Florenz. Dort, wo ich in einer völlig anderen Welt abgesetzt wurde und still zwischen so ganz anders gearteten Italienern einherwanderte, in Kirchen und Paläste

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