Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
schmerzlichen Schlag. Marius nahm meine Hand und sagte, dass wir nun heimlich zum Kloster von San Marco gegen wollten.
»Das ist die heilige Stätte Savonarolas«, erklärte er. »Wir werden, für seine frommen Bewohner unbemerkt, hineinschlüpfen.« Abermals bewegten wir uns wie durch Magie fort. Ich fühlte nur die starken Arme meines Herrn und bemerkte auf unserem Weg nicht einmal die Türrahmen. Ich wusste, dass er mir die Werke eines Künstlers zeigen wollte, der Fra Angelico genannt wurde, der, schon lange tot, sein Leben lang in diesem Kloster gearbeitet hatte, ein malender Mönch, wie es vielleicht auch mein Geschick hätte sein sollen, weit fort von hier in dem lichtlosen Katakombenkloster. Innerhalb von Sekunden landeten wir geräuschlos auf dem feuchten Gras des Klosterinnenhofes, dem heiteren Garten, der von Michelozzos Wandelgängen eingeschlossen wurde, wohl behütet innerhalb der Mauern.
Im gleichen Moment strömten jede Menge Gebete auf mein inneres vampirisches Gehör ein, verzweifelte, bewegte Gebete der Brüder, die treu zu Savonarola gestanden oder mit ihm gefühlt hatten. Ich presste die Hände an den Kopf, als könnte diese kindische menschliche Geste dem Göttlichen signalisieren, dass mehr auf mich eindrang, als ich zu ertragen vermochte. Die beruhigende Stimme meines Herrn unterbrach den Empfang der Gedankenströme.
»Komm«, sagte er, indem er nach meiner Hand griff. »Wir werden nacheinander in jede Zelle schlüpfen. Das Licht reicht aus, die Gemälde dieses Mönches zu sehen.«
»Willst du sagen, dass Fra Angelico die Wände der Zellen bemalte, die den Mönchen als Schlafstätte dienen?« Ich hatte angenommen, die Bilder würden sich in der Kapelle und in den Gemeinschaftsräumen befinden.
»Darum will ich ja, dass du es siehst«, antwortete Marius. Er rührte mich über ein paar Stiegen in einen langen Korridor und bewerkstelligte es, dass die erste Tür aufsprang. Leise und fließend, mit sachten Bewegungen, traten wir ein, ohne den Mönch aufzustören, der auf seinem harten Bett zusammengerollt lag, die schwitzende Stirn ins Kissen gedrückt.
»Schau ihm nicht ins Gesicht«, sagte mein Herr leise. »Sonst siehst du die bedrückten Träume, die ihn plagen. Schau dir die Wand dort an. Was siehst du? Schau!«
Ich verstand sofort. Diese Kunst des Fra Giovanni, den man, um sein überirdisches Talent zu ehren, Angelico genannt hatte, war eine seltsame Mischung aus der sinnlichen Kunst unserer Zeit und der frommen, entsagenden Kunst der Vergangenheit. Ich schaute auf die strahlende, anmutige Darstellung der Gefangennahme Christi im Garten Gethsemane. Die schlanken, flachen Gestalten ähnelten den geschmeidigen Darstellungen auf den russischen Ikonen, und doch waren die Gesichter weicher, plastischer, von echten, anrührenden Gefühlen belebt. Es war, als ob alle Wesen auf dem Gemälde von Güte durchdrungen wären, nicht nur Unser HERR selbst, der verdammt war, von einem der Seinen verraten zu werden, sondern auch die Apostel, die zusahen, und sogar der unglückliche Soldat in seinem Kettenhemd, der den Arm ausstreckte, um Christus fortzubringen, und die anderen Soldaten, die alles beobachteten. Ich war fasziniert von dieser unverkennbaren Güte, dieser deutlich sichtbaren Unschuld, die alle ansteckte, von diesem erhabenen Mitgefühl, das der Künstler für alle Beteiligten an dem tragischen Drama fühlte, das die Erlösung der Welt eingeleitet hatte. Umgehend wurde ich in eine andere Zelle versetzt. Wieder gab die Tür unter Marius’ Befehl nach, und der schlafende Insasse erfuhr nie von unserer Anwesenheit. Dieses Bild zeigte den Garten Gethsemane und den gequälten Christus vor der Gefangennahme inmitten seiner schlafenden Jünger, wie er in seiner Verlassenheit seinen Himmlischen Vater um Kraft bat. Abermals war da die Ähnlichkeit mit dem alten Stil, den ich als russischer Knabe so sicher hatte anwenden können. Die Falten der Gewänder, der Gebrauch der Bögen, der Heiligenschein für jedes Haupt, die disziplinierte Darstellung - alles hatte eine Verbindung zur Vergangenheit, und doch erschien auch hier wieder die neue italienische Wärme, die unleugbare italienische Liebe zu allem Menschlichen, das selbst unseren HERRN einschloss. Wir gingen von Zelle zu Zelle, reisten vor und zurück durch das Leben Christi, vom ersten Abendmahl, in dem Christus so anrührend das Brot teilte, das sein Fleisch und Blut war, als wäre es die Hostie bei der Messe, und dann zur Bergpredigt, bei der
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