Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
die glatten, weichen Hügel rings um unseren HERRN aussahen wie aus Tuch geformt, und seine Zuhörer schienen ebenso aus Tuch zu sein wie sein weich fallendes Gewand. Als wir zur Kreuzigung kamen, der Szene, in der Christus seine Mutter dem heiligen Johannes in Obhut gibt, war ich bis ins Herz getroffen von dem Leid, das sich auf Seinem Antlitz spiegelte. Wie nachdenklich in ihrem Kummer war doch das Gesicht der Jungfrau, und wie resigniert schaute der Heilige an ihrer Seite, mit seinem weichen, hellhäutigen, florentinischen Gesicht, das so vielen tausend anderen gemalten Gestalten in dieser Stadt ähnelte und nur mit einem hellen, braunen Bart umrandet war!
Immer wenn ich dachte, ich hätte diese neue Lektion meines Gebieters verstanden, stießen wir auf ein weiteres Gemälde, das mich eine noch tiefere Verbindung mit den Schätzen aus längst vergangener Knabenzeit fühlen ließ, und mit dem stillen, strahlenden Glanz des Dominikanermönches, der diese Wände geschmückt hatte. Wir gingen in die Nacht hinaus und zurück nach Venedig, reisten in kalter, brausender Dunkelheit und kamen früh genug zu Hause an, um im warmen Licht des üppigen Schlafgemachs noch eine Weile beim Gespräch zusammenzusitzen.
»Hast du verstanden?«, drängte Marius. Er saß an seinem Pult mit der Feder in der Hand, die er nun eintauchte und, noch während er sprach, aufs Papier setzte, nachdem er die Pergamentseiten seines Tagebuchs umgeblättert hatte. »Im fernen Kiew bestanden die Zellen aus blanker, feuchter Erde, dunkel und verschlingend, der Schlund, der alles Lebende schließlich verzehrt und alle Kunst zum Niedergang bringen würde.«
Ich zitterte. Ich rieb mir die Oberarme und schaute ihn an. »Aber dort, in Florenz, was hat dieser feinsinnige Lehrer Fra Angelico seinen Brüdern vermacht? Herrliche Bilder, um sie an die Leiden Unseres HERRN zu erinnern?«
Er schrieb einige Zeilen, ehe er weitersprach.
»Fra Angelico fand es nicht verächtlich, dein Auge zu erfreuen, dir alle Farben zu zeigen, denn Gott hat dir die Fähigkeit gegeben, sie alle zu sehen, indem er dir zwei Augen schenkte, Amadeo, um zu sehen und nicht… nicht, um dich in der dunklen Erde zu vergraben.« Ich dachte lange nach. Das alles theoretisch zu wissen, war eine Sache. Durch das schlafende, stille Kloster zu schreiten, die Prinzipien meines Herrn dort sogar durch einen Mönch verherrlicht zu sehen - das war etwas anderes.
»Wir leben in einer großartigen Zeit«, sagte Marius leise. »Was schon bei den Alten gut war, wird wiederentdeckt und in eine neue Form gebracht. Du fragst mich, ob Christus der HERR ist? Ich sage, Amadeo, dass es so sein kann, denn er selbst hat nie etwas anderes als Liebe gelehrt, oder zumindest haben uns das die Apostel, ob sie es nun wollten oder nicht, glauben gemacht…«
Ich wartete ab, denn ich wusste, dass er noch nicht fertig war. Das Zimmer war so herrlich warm und rein und hell! In meinem Herzen trage ich auf ewig ein Bild von ihm, wie er in diesem Augenblick war, der große blonde Marius, den roten Umhang zurückgeworfen, um den Arm mit der Feder frei zu haben, sein Gesicht glatt und nachdenklich, seine blauen Augen suchten über unsere Epoche und jede andere, in der er gelebt hatte, hinaus nach der Wahrheit. Das schwere Buch lehnte schräg in einem bequemen Winkel auf einem niedrigen, tragbaren Lesepult. Das kleine Tintenfass steckte in einem reich verzierten, silbernen Ständer. Und der schwere Kandelaber hinter ihm, mit den acht dicken tropfenden Kerzen, bestand aus zahllosen reliefartig tief in das Silber eingearbeiteten Putten mit zum Flug ausgespannten Schwingen, als wollten sie davonfliegen, und ihre kleinen, rundwangigen Gesichter schauten mit großen zufriedenen Augen unter Korkenzieherlöckchen in alle Himmelsrichtungen. Es sah aus, als wären die kleinen Engel ein Publikum, das zusah und Marius’ Worten l auschte, so viele, viele Gesichtchen blickten ohne Regung aus dem Silber hervor, ohne der tropfenden Bäche schmelzenden Wachses zu achten.
»Ohne diese Schönheit kann ich nicht leben«, sagte ich plötzlich, obwohl ich eigentlich hatte abwarten wollen. »Ich kann ohne sie nicht durchhalten. O Gott, du hast mir die Hölle gezeigt, und nun liegt sie hinter mir, in dem Land, in dem ich geboren wurde.«
Er hörte meine Bitte, mein kleines Geständnis, mein verzweifeltes Flehen.
Er kam zu unserer Lektion zurück, indem e r sagte: »Wenn Christus der HERR ist, dann ist das christliche Mysterium wirklich ein
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