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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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versuchen, mich durch das rote Tuch des Betthimmels und durch die Zimmerdecke nach oben zu ziehen. Und wirklich, als ich nach unten blickte, sah ich zu meinem größten Erstaunen mich selbst auf dem Bett liegen. Ich sah mich, als wäre der Betthimmel, der mir die Sicht auf meinen Körper versperrte, gar nicht da.
    Ich war viel schöner, als ich es mir selbst je vorgestellt hatte. Glaub mir, ich sah das ganz leidenschaftslos. Ich fühlte keinerlei Hochstimmung wegen meiner Schönheit. Ich dachte nur, wie schön doch dieser Jüngling war, wie reich ihn Gott beschenkt hatte. Sieh nur seine langen, schlanken Hände, wie sie so neben ihm liegen, und sieh das intensive Kastanienrot seiner Haare! Das war ich selbst, und die ganze Zeit hatte ich es nicht gewusst, hatte gar nicht darüber nachgedacht, hatte auch nie überlegt, welche Wirkung diese Schönheit auf die Menschen meiner Umgebung haben mochte. Ich hatte ihren Schmeicheleien nie geglaubt. Ich hatte nur Verachtung übrig für die Leidenschaft, die ich erregte. Wahrhaftig, selbst meinen Herrn hatte ich bisher für schwach und verblendet gehalten, weil er mich so sehr begehrte. Aber nun verstand ich, warum die Leute um meinetwillen manchmal ein bisschen den Verstand verloren hatten. Der Jüngling, der dort sterbend auf dem Bett lag, der Jüngling, dessentwegen alle in diesem großen Gemach weinten, er schien die Verkörperung von Reinheit und Jugend an der Schwelle zur Reife zu sein. Was ich ganz sinnlos fand, war die Erschütterung hier im Raum. Warum weinten sie alle? In der Tür sah ich einen Priester stehen, einen Priester, den ich von der nahen Kirche kannte, und ich sah auch, dass die Jungen mit ihm einen Wortwechsel hatten und nicht wagten, ihn zu mir gehen zu lassen, weil er mich ängstigen könnte. Das ganze Aufhebens schien mir sinnlos. Riccardo sollte aufhören, die Hände zu ringen. Bianca sollte ihre Bemühungen mit dem feuchten Tuch und ihren sanften, aber offensichtlich verzweifelten Worten unterlassen. Ach, du armes Kind, dachte ich. Du hättest vielleicht ein bisschen mehr Mitgefühl für deine Mitmenschen gehabt, wenn dir bewusst gewesen wäre, wie schön du bist. Sicher hättest du dir selbst mehr Kraft zugetraut, wärest eher in der Lage gewesen, für dich etwas zu erreichen. So, wie es aussieht, hast du nur hinterhältige Spielchen mit den anderen gespielt, weil du kein Vertrauen in dich selbst hattest, nicht einmal wusstest, wer du wirklich bist.
    Nun schien mir der Irrtum, in dem ich befangen gewesen war, ganz klar erkennbar. Doch jetzt verließ ich diese Welt! Die gleiche Kraft, die mich aus diesem schönen jungen Körper dort unten auf dem Bett gezogen hatte, zog mich nun weiter aufwärts, hinein in einen Tunnel, einen heftigen, tosenden Strudel aus Wind.
    Der Wind wirbelte um mich herum, schloss mich ringsum ein. Dennoch konnte ich darin andere Wesen erkennen, die zuschauten, während sie selbst davon umfangen waren und von der unablässigen Heftigkeit des Sturmes fortgetragen wurden. Ich sah Augen, die mich anblickten, Münder, die aufgerissen waren wie in Pein. Höher und höher wurde ich durch diesen Tunnel hinaufgesogen. Ich fühlte keine Angst, aber etwas wie Fatalismus. Ich konnte nichts dagegen ausrichten.
    Das war dein Fehler, als du noch dieser Jüngling dort unten warst, ging es mir durch den Sinn. Aber dies hier ist tatsächlich aussichtslos. Und gerade, als ich zu diesem Schluss gelangt war, endete der Tunnel, er löste sich auf. Ich stand am Ufer jenes lieblichen, glitzernden Meeres. Es waren die gleichen Wasser wie zuvor, sie hatten mich nicht durchnässt, und ich sagte laut: »Oh, ich bin hier, ich habe das Ufer erreicht! Sieh, dort sind die Türme aus Glas!«
    Als ich den Blick hob, stellte ich fest, dass die Stadt weit entfernt lag, hinter einer ganzen Reihe saftig grüner Hügel, und dass ein Pfad zu ihr rührte, der auf beiden Seiten von einem Meer wunderschöner Blumen gesäumt wurde. Nie zuvor hatte ich solche Blumen gesehen, nie solche Formen, solche Blütenblätter, und in meinem ganzen Leben noch nicht solche Farben. Für diese Farben gab es auf der Palette des Künstlers keine Namen. Die wenigen unzureichenden Bezeichnungen, die mir bekannt waren, taugten nicht dafür.
    Ach, wie sehr würden die venezianischen Maler über diese Farben staunen, dachte ich, und nicht auszudenken, wie sehr sie unsere Arbeit veränderten, wie sie unsere Gemälde zum Leuchten brächten, wenn man nur den Stoff fände, in dem sie enthalten

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