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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Freude empfand. Dieses Wissen war wie die Liebe, wie das Schöne. Wahrhaftig erkannte ich mit jauchzender Glückseligkeit, dass sie alle drei - das Wissen, die Liebe und das Schöne - eins waren.
    »O ja, wie konnte mir das entgehen? Es ist doch so einfach!«, dachte ich.
    Wenn ich nicht in diesem Zustand gewesen wäre - ohne Körper, ohne Augen - dann hätte ich geweint, doch es wären Freudentränen gewesen. Wie es aussah, hatte meine Seele über alle kleinlichen, irritierenden Dinge triumphiert. Ich hielt ganz still, und dieses Wissen, die Tatsachen, die hunderte und aberhunderte kleinster Details, die wie durchscheinende Tropfen einer magischen Flüssigkeit waren, durchströmten mich, flössen in mich hinein, erfüllten mich und vergingen, um Platz für einen neuen Sturzregen an Wahrheiten zu machen - all dies schien plötzlich zu verblassen.
    Dort in der Ferne stand die gläserne Stadt, und dahinter ein blauer Himmel, blau wie ein Mittagshimmel, dennoch übersät mit allen je gesehenen Sternen. Ich machte mich auf den Weg zu der Stadt. Ich schritt sogar derart stürmisch und mit solcher Überzeugung aus, dass drei Leute vonnöten waren, um mich zurückzuhalten.
    Ich hielt ein. Ich war ganz erstaunt. Ich kannte diese Männer doch! Es waren Geistliche, alte Priester meines Heimatlandes, schon lange tot, ehe ich berufen worden war - etwas, woran ich mich nun ganz deutlich erinnern konnte -, ich wusste ihre Namen, wusste, wie sie gestorben waren. Sie waren nämlich heilige Männer meiner Heimat und der ausgedehnten Katakombenstadt, wo ich gelebt hatte. »Warum haltet Ihr mich fest?«, fragte ich. »Wo ist mein Vater? Er muss doch auch hier sein?« Kaum hatte ich diese Frage gestellt, erblickte ich ihn auch schon. Er sah genauso aus wie immer. Er war ein großer, zottelig behaarter Mann mit von grauen Strähnen durchsetztem Vollbart und dichtem, langem, rotbraunem Haar, von der gleichen Farbe wie mein eigenes. Er trug sein Jagdgewand aus Leder, seine Wangen waren rot vom kalten Wind, und zwischen dem dichten Bart schimmerte seine Unterlippe feucht und rosa hervor, wie ich es in Erinnerung hatte. Seine Augen leuchteten immer noch im gleichen Porzellanblau. Er winkte mir zu, mit seiner gewohnten Handbewegung, lässig, herzlich, und er lächelte. Er sah aus, als wollte er sich gerade in die Steppe aufmachen, jedem Ratschlag, jeder Warnung zum Trotz auf die Jagd gehen, ohne die mindeste Furcht vor den Mongolen oder den Tataren, die sich auf ihn stürzen konnten. Schließlich hatte er seinen großen Bogen dabei, den Bogen, den nur er spannen konnte, als wäre er den alten Mythen entsprungen, ein Held der Steppe, und er hatte eigenhändig geschärfte Pfeile dabei und außerdem sein gewaltiges Breitschwert, mit dem er einem Mann mit einem Streich den Kopf abschlagen konnte.
    »Vater, warum halten sie mich fest?«, fragte ich.
    Sein Blick war verständnislos. Sein Lächeln verblasste und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck, und dann, wie tief, wie sehr es mich auch bekümmerte, verblasste sein ganzer Körper, und er war fort. Die Priester an meiner Seite, die schwarz gewandeten Männer mit ihren langen, grauen Bärten, sprachen mich in leisem, mitfühlendem Flüsterton an und sagten: »Andrei, für dich ist es noch zu früh, hierher zu kommen.«
    Ich war betrübt, zutiefst betrübt. Tatsächlich war ich so traurig, dass ich meinen Widerspruch nicht in Worte zu fassen vermochte. Darüber hinaus verstand ich sehr gut, dass jeglicher Widerspruch nutzlos war, und dann ergriff einer der Priester meine Hand.
    »Nun, es ist doch immer das Gleiche mit dir, Andrei«, sagte er. »So frag also.«
    Beim Sprechen bewegte er die Lippen nicht, doch das war auch nicht nötig. Ich hörte ihn sehr deutlich, und ich wusste, dass er nicht gehässig zu mir sein wollte. Dessen war er nicht fähig.
    »Warum kann ich dann nicht hier bleiben? Warum könnt Ihr es nicht zulassen, dass ich bleibe, wenn ich es doch möchte, und wenn ich schon einmal bis hierher gekommen bin?«
    »Denk darüber nach, was du alles gesehen hast. Du kennst die Antwort.«
    Und ich musste sogleich zugeben, dass ich die Antwort kannte. . Sie war vielschichtig und doch im Grundsatz einfach, und sie hing mit all den neu gewonnenen Erkenntnissen zusammen.
    »Du kannst das nicht mit dir zurück in die Welt der Lebenden nehmen«, sagte der Priester. »Du wirst alles, was du hier erfahren hast, wieder vergessen. Doch die wichtigste Lektion behalte im Kopf: dass alles, was zählt, die

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