Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
waren, so dass man sie zermahlen und mit unseren Malerölen vermischen könnte! Aber wie unsinnig wäre das. Malerei war nicht mehr nötig. Alle Herrlichkeit, die durch Farben erreicht werden konnte, war hier in dieser Welt schon aufgedeckt. Ich sah sie in den Blumen, sah sie in den vielfältigen Schattierungen des Grases, sah sie in dem grenzenlosen Himmelszelt, das sich hoch über mir dehnte, bis hin zu dieser blendenden, fernen Stadt, und auch die blinkte und glühte in einer Harmonie der Farben, die ineinander übergingen und blitzten und schimmerten, als bestünden die Türme dieser Stadt aus einer wundersamen, schäumenden Energie anstatt aus toter oder irdischer Materie oder Masse.
Unendliche Dankbarkeit strömte aus mir hervor, mein ganzes Sein verströmte sich in dieser Dankbarkeit. »Herr, ich verstehe nun«, sagte ich laut. »Ich sehe dies, und ich verstehe.« Und in diesem Augenblick erschien mir wirklich völlig einsichtig, was darin inbegriffen war, diese Variationen des Schönen, ihr stetiges Wachsen und diese pulsierende, strahlende Welt. Es trug eine so tiefe Bedeutung in sich, dass es auf alles eine Antwort, für alles eine Lösung zu geben schien. Immer und immer wieder flüsterte ich vor mich hin. »Ja!« Ich nickte, glaube ich, und dann schien mir sogar die Mühe, meine Zustimmung in Worte zu fassen, ganz absurd. Eine gewaltige Kraft ging von dieser Schönheit aus. Sie umfing mich, als wäre sie Luft oder Wind oder Wasser, doch sie war nichts von dem, sondern viel auserlesener, viel beherrschender, und obwohl sie mich fest in ihrem Griff hatte, war sie dennoch unsichtbar, übte keinen Zwang aus, hatte keine fassbare Form. Diese Kraft war die Liebe. O ja, dachte ich, Liebe ist es, vollkommene Liebe, und in ihrer Vollkommenheit verleiht sie meinen bisherigen Erfahrungen Bedeutung, denn jede Enttäuschung, jeder Schmerz, jeder Fehltritt, jede Umarmung, jeder KUSS war nur ein ahnungsvoller Vorgeschmack auf diese erhabene Bejahung des Seins, auf das Gute an sich, denn meine falschen Schritte hatten mir gezeigt, woran es mir mangelte, und was mir Gutes, was mir an Zärtlichkeiten widerfahren war, hatte mir einen Blick darauf erlaubt, wie Liebe sein konnte. Diese tiefe Liebe schenkte nun meinem Leben einen Sinn, nichts ließ sie aus, und jetzt, als ich es ohne Drängen, ohne Fragen hinnahm, staunte ich darüber, und es setzte ein wunderbarer Prozess ein. Alle, die ich in meinem Leben je gekannt hatte, erschienen vor mir. Ich sah mein ganzes Leben, von seinem ersten Moment an bis zu dem Ereignis, das mich hierher gerührt hatte. Es war kein besonders bemerkenswertes Leben, es gab kein großes Geheimnis, keine Kniffe, nichts Bedeutsames, das meinen Sinn hätte ändern können. Im Gegenteil, es war nur eine ganz normale, gewöhnliche Kette aus unzähligen kleinsten Ereignissen, und in diese Ereignisse verwoben waren all die anderen Menschenseelen, mit denen ich je Kontakt hatte. Nun erkannte ich, welchen Schmerz ich verursacht hatte, sah, wodurch ich Trost gespendet hatte, und ich sah das Ergebnis aller meiner Taten, und waren sie noch so nebensächlich und unbedeutend. Ich sah die Florentiner bei ihrem Festmahl in dem Bankettsaal, und ich sah mitten unter ihnen die unbeholfene Einsamkeit, mit der sie in ihren Tod stolperten. Ich sah die Isolation und die Traurigkeit ihrer Seelen, während sie darum gekämpft hatten, am Leben zu bleiben. Eines konnte ich nicht sehen, und das war das Gesicht meines Herrn. Ich konnte nicht erkennen, wer er war. Ich konnte nicht in seine Seele blicken. Ich konnte nicht erkennen, was meine Liebe für ihn bedeutete, oder seine Liebe für mich. Aber das war auch nicht wichtig. Eigentlich merkte ich es sogar erst später, als ich versuchte, mir dieses Geschehen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Im Moment war nur eins wichtig: dass ich verstand, was es hieß, jemanden zu schätzen, das Leben selbst zu schätzen. Ich erkannte nun, was es bedeutet hatte, selbst zu malen - nicht die leidenschaftlichen, blutenden, pulsierenden Gemälde der venezianischen Schule, sondern ehrwürdige Bildnisse in dem früheren byzantinischen Stil, die einst so arglos und doch perfekt unter meinem Pinsel entstanden waren. Nun wusste ich, dass ich wundersame Dinge gemalt hatte, und ich sah die Auswirkungen meiner Malerei … und mir schien, dass das Wissen mich wie eine große Welle überflutete. Tatsächlich war es ein solcher Wissensschub, und alles so leicht zu erfassen, dass ich eine überschäumende
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