Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Bauwerk nicht, zumindest nicht, soweit ich das erkennen konnte.
»Ah, lass mich für einen Augenblick schauen!«, rief ich Merrick zu. Sie antwortete nicht. Sie schien einem bedeutungsvollen Klang nachzulauschen. Nun horchte auch ich, und wieder war mir, als wären wir nicht allein. Irgendetwas bewegte sich durch die Luft, etwas stupste uns, etwas stemmte sich gegen die Schwerkraft und mühte sich verbissen, meinen Körper von der Stelle zu bewegen. Merrick schwenkte plötzlich nach links ab und begann, sich mit der Machete den Weg seitwärts an der Pyramide vorbei zu bahnen, in die Richtung, die wir ursprünglich eingeschlagen hatten. Der Pfad war hier nicht mehr zu sehen. Es gab nur noch Dschungel ringsum, und ich stellte bald fest, dass links von uns eine weitere Pyramide aufragte, die viel höher war als die rechts von uns. Wir befanden uns in einer schmalen Gasse zwischen den beiden monumentalen Bauwerken und mussten uns den Weg mühsam durch Schutthügel bahnen, die von früheren Ausgrabungen stammten.
»Diebe«, sagte Merrick, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Sie haben die Pyramiden schon öfter geplündert.« Das war bei Maja-Ruinen kaum ungewöhnlich. Warum sollten diese seltsam fremdartigen Bauten davon verschont bleiben? »Ah, aber sieh mal«, sagte ich, »immerhin ist noch viel von den Bauwerken zu sehen. Ich möchte einmal hinaufsteigen. Lass es uns mit der kleineren Pyramide versuchen. Ich will sehen, ob ich es bis auf die oberste Plattform schaffe.«
Merrick wusste genauso gut wie ich, dass einstmals an der Stelle ein strohgedeckter Tempel gestanden haben mochte. Es gab keine Hinweise auf das Alter dieser Monumente. Sie konnten vor Christi Geburt gebaut worden sein oder auch erst tausend Jahre später. Trotz allem, ich fand sie großartig, und sie heizten meine Abenteuerlust, die mich wieder zu einem kleinen Jungen machte, erst recht an. Ich hätte gern meine Kamera hervorgeholt. Mittlerweile hatte sich der übersinnliche Aufruhr fortgesetzt. Es war seltsam faszinierend: als würde die Luft von den Geistern aufgewirbelt. Das Gefühl der Bedrohung war sehr stark. »Guter Gott, Merrick, wie sehr sie sich anstrengen, uns aufzuhalten«, flüsterte ich. Aus dem Dschungel stieg wie zur Antwort ein ganzer Chor von Schreien auf. Etwas bewegte sich im Unterholz. Aber Merrick, die für ein paar Sekunden stehen geblieben war, eilte weiter. »Ich muss die Höhle finden«, sagte sie mit flacher, tonloser Stimme. »Sie haben uns damals nicht aufgehalten, und sie werden dich und mich auch heute nicht aufhalten.« Sie ging vorwärts, und der Dschungel schloss sich hinter ihr nur zu bereitwillig. »Stimmt!«, rief ich. »Das hier ist nicht nur eine Seele, es sind viele. Sie wollen uns nicht in der Nähe dieser Pyramiden dulden.«
»Es geht nicht um die Pyramiden«, behauptete Merrick, während sie auf Ranken einhieb und sich durchs Unterholz zwängte. »Es geht um die Höhle. Sie wissen, dass wir dorthin wollen.« Ich tat mein Möglichstes, um mit Merrick Schritt zu halten und sie zu unterstützen, aber eindeutig leistete sie beim Freihacken des Weges den größten Beitrag. Nach einigen weiteren Metern schien der Dschungel undurchdringlich zu werden, und das Licht veränderte sich plötzlich. Ich stellte fest, dass wir vor dem geschwärzten Durchgang eines riesigen Bauwerks angelangt waren, dessen schräge Wände sich rechts und links von uns erstreckten. Es war ein Tempel, ganz sicher. Ich konnte die imposanten, in den Stein gehauenen Muster auf beiden Seiten des Durchgangs erkennen, und oberhalb davon, wo die Wand wie eine Art steinerne Haube nach oben ragte, konnte man dank der kümmerlichen Strahlen der Sonne ebenfalls komplizierte Gravuren sehen.
»Herrgott! Merrick, warte!«, rief ich. »Ich will ein paar Fotos machen!« Dabei verrenkte ich mich, um an die Kamera zu kommen Doch ich hätte den Rucksack abnehmen müssen, und meine Arme waren einfach zu müde.
Die Unruhe in der Luft wurde immer intensiver. Ich spürte etwas, das sich anfühlte, als tippten Fingerspitzen gegen meine Lider und Wangen - völlig anders als die dauernden Attacken der Insekten. Etwas berührte meinen Handrücken, und eine Sekunde lang glaubte ich fast, ich hätte den Griff meiner Machete losgelassen. Doch ich fing mich schnell.
Merrick blieb still stehen und starrte in das Dunkel des Durchgangs oder Korridors, der sich vor uns auftat. »Mein Gott«, flüsterte sie, »sie sind viel stärker als damals. Sie wollen nicht, dass
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