Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
spürte ich sprachlose Bedrohung und wie ich von schwachen Wesen geschubst und gestoßen wurde, die sich verzweifelt meinem Vorwärtskommen entgegenstellten.
Zum tausendsten Mal benutzte ich mein Taschentuch, um mir die Insekten aus dem Gesicht zu wischen.
Merrick marschierte sofort weiter. Der Pfad führte steil bergan. Und ich sah das Funkeln des Wasserfalls, ehe ich noch sein Rauschen vernahm. An einer schmalen Stelle, wo Wasser rasch dahinfloss, setzte Merrick auf das rechte Ufer über, und ich folgte ihr, wobei meine Machete ebenso kräftig zum Einsatz kam wie ihre. Neben dem Wasserfall aufzusteigen war gar nicht schwierig. Doch die Geister wurden zusehends aktiver. Merrick fluchte ständig leise vor sich hin. Ich rief Oxalá an, damit er uns den Weg wies. Merrick jedoch sagte: »Honey, los, bring mich hin!« Ganz unvermittelt erblickte ich unter einem überhängenden Felsen, über den hinweg das Wasser in weitem Strahl in die Tiefe schoss, ein ungeheuer großes Antlitz mit aufgerissenem Mund. Es war offensichtlich um den Eingang einer Höhle herum tief in den vulkanischen Fels gehauen worden. Genauso hatte der unglückliche Matthew es seinerzeit beschrieben. Da seine Kamera jedoch feucht geworden war, hatte er kein Foto davon machen können. Deshalb versetzte mir der Anblick aufgrund seiner Ausmaße einen großen Schock.
Nun, Sie können sich sicher vorstellen, welche Befriedigung ich darüber empfand, dass wir diesen mythischen Ort erreicht hatten. Jahrelang hatte ich davon erzählen hören, er war für mich unauflöslich mit Merrick verbunden - und nun waren wir da. Auch wenn die Geister weiterhin auf uns einstürmten, so legte sich doch wenigstens der sanfte Nebel, der von dem Wasserfall aufstieg, kühlend auf Gesicht und Hände.
Ich kletterte weiter empor und wollte mich gerade neben Merrick stellen, als sich die Geister ganz plötzlich mit ungeheurem Druck gegen meinen Körper stemmten und ich merkte, wie mein linker Fuß den Halt verlor. Ich schrie zwar nicht auf, sondern suchte nur nach einem neuen Halt, doch Merrick drehte sich zu mir um und griff spontan nach meinem Jackenärmel, um mich festzuhalten. Mehr war nicht nötig, damit ich wieder zu sicherem Stand fand und die restlichen Meter bis zu dem geebneten Boden vor dem Höhleneingang erklimmen konnte.
»Sieh nur, die Opfergaben«, sagte Merrick und legte ihre Hand auf die meine.
Die Geister verdoppelten ihre Anstrengungen, aber ich hielt stand und Merrick auch, obwohl sie zweimal nach etwas schlug, dass sich offenbar vor ihrem Gesicht befand.
Nun, was die angesprochenen »Opfergaben« anging, so erblickte ich Folgendes: ein riesiges, behelmtes Haupt aus Basaltgestein. Es kam mir vor, als ähnelte es den olmekischen Fundstücken, aber mehr konnte ich auch nicht sagen. Gab es Ähnlichkeiten mit den Wandmalereien in dem Tempel? Unmöglich zu bestimmen. Was es auch war, auf jeden Fall begeisterte es mich. Das Gesicht mit den geöffneten Augen und dem unvergleichlichen lächelnden Mund war aufwärts geneigt, so dass es den unvermeidlichen Regen empfangen konnte. An seiner unebenen Basis stand zwischen aufgehäuftem, geschwärztem Felsgestein zu meinem Erstaunen nicht nur Tongeschirr, sondern auch ein ganzes Aufgebot an Kerzen und Federn und verwelkten Blumen. Ich konnte von meinem Platz aus den Weihrauch riechen. Die geschwärzten Steine zeugten davon, dass hier schon seit vielen Jahren Kerzen aufgestellt wurden, aber die letzten Gaben konnten nicht älter als zwei oder drei Tage sein.
Ich spürte, dass sich in der Luft ringsum etwas veränderte, doch Merrick schien wegen der Geister immer noch besorgt. Abermals gestikulierte sie unwillkürlich, als wolle sie etwas Unsichtbares fortscheuchen.
»Also hat nichts die Leute davon abgehalten, herzukommen«, sagte ich rasch, während ich die Opfergaben begutachtete. »Ich will etwas ausprobieren«, fuhr ich dann fort. Dabei griff ich in meine Jackentasche und zog ein Päckchen Rothmans hervor. Ich trug stets eins bei mir, falls mich das Gelüst nach einer Zigarette überkam. Ich riss die Packung hastig auf, steckte mir trotz des unaufhörlichen Sprühnebels vom Wasserfall mit meinem Gasfeuerzeug eine Zigarette an und legte sie, nachdem ich inhaliert hatte, vor dem Riesenhaupt nieder. Dann legte ich die ganze restliche Schachtel dazu. Ich richtete ein paar stumme Gebete an die Geister, mit der Bitte, uns den Zugang zu diesem Ort zu gewähren. Doch die Aktion änderte nichts an dem Angriff der Geister.
Weitere Kostenlose Bücher